wendig zum völligen Bruch mit dem alten sozialdemokratischen Programm führen. Eine derartige Frontänderung kann aber von niemandem ungestraft gemacht werden, sie muß unvermeidlich, wenn auch nur vorübergehend, seine Energie schwächen, zudem hat die Energie derer, die Bernsteins Standpunkt eingenommen, sehr wenig mit derjenigen gemein, die der, ihres Sieges sicheren sozialdemokratischen Partei eigen ist. Unumgänglich müssen jene den Kampf anders auffassen als wir, und folglich muß auch ihre Siegeszuversicht sich von der unserigen wesentlich unterscheiden. Deshalb kann man nicht umhin, zu sagen, daß die für unsere Partei notwendige Energie in direktem Verhältnis zu der Zahl derjenigen geschwächt wurde, die auch nur vorübergehend Bernstein zugestimmt haben. Gleich Ihnen glaube ich auch, daß die internationale Sozialdemokratie keinen Grund hat, auf die Gefolgschaft solcher Leute solchen Wert zu legen, daß sie vielmehr allen Grund hat, zu wünschen, daß sie ihre Reihen verlassen, bevor die Zeit der ernsten Prüfungen für sie herangebrochen ist. Nach meiner Meinung ist Ihre strenge Beurteilung solcher Leute vollständig berechtigt. Es will mir aber scheinen, daß Sie nicht konsequent sind, – daß wenn Sie sich entschließen wollten, konsequent zu sein, Sie noch strenger den Mann, dessen Einflusse diese Leute verfallen sind, – d. i. Eduard Bernstein selbst – beurteilen müßten.
Es liegt mir durchaus fern, mich in die inneren Angelegenheiten der deutschen Sozialdemokratie einzumischen, und zu entscheiden, ob Sie die Artikel Bernsteins in der „Neuen Zeit“ hätten aufnehmen sollen oder nicht. Nichts liegt mir ferner als eine derartige Anmaßung. Aber Sie wissen selbst, hochverehrter und lieber Genosse, daß in Stuttgart Fragen zur Debatte standen, die für die Sozialdemokratie der ganzen Welt von enormer Tragweite sind. Und nur deshalb entschloß ich mich, an Sie diesen Brief zu richten. Sie sagen, daß die Polemik mit Bernstein eigentlich jetzt erst beginne. Ich bin damit nicht ganz einverstanden, denn die Fragen, die von Bernstein aufgeworfen wurden, sind in bedeutendem Maße durch die Parvus’schen Artikel ihrer Lösung näher gebracht worden, mit welchen Artikeln sich Parvus um das Proletariat aller Länder sehr verdient gemacht hat.[1] Aber nicht darum handelt es sich jetzt. Die Hauptsache ist, daß, indem wir die Polemik mit Bernstein wieder aufnehmen, wir der von mir erwähnten Worte Liebknechts eingedenk sein müssen: Hätte Bernstein Recht, dann könnten wir unser Programm und unsere ganze Vergangenheit begraben lassen. Wir müssen daran festhalten und unseren Lesern offen erklären, daß es sich nunmehr darum handelt: Wer soll von wem: die Sozialdemokratie von Bernstein, oder Bernstein von der Sozialdemokratie begraben werden? Ich persönlich zweifle und zweifelte nie über den Ausgang dieses Streites. Aber gestatten Sie mir, hochverehrter und lieber Genosse, zum Schlusse meines Briefes noch einmal die Frage an Sie zu richten: Sind
[1] Siehe Parvus: E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus. In: Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 22 vom 28. Januar 1898 bis Nr. 54 vom 6. März 1898. – Ders.: Ed. Bernstein als „Armer Toms“. In: ebenda, Nr. 70 vom 26. März 1898.