Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 223

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Marx“, doch die weitgehende Einmischung des Staates in die wirtschaftliche Tätigkeit der Individuen zulasse und „der erste Nationalökonom“ sei, „der die Notwendigkeit, auch erwachsene Männer unter Umständen zu schützen, verteidigte“.[1]* Als „praktisch-politischer“ Sozialist von gleichem Schlage erscheint nun, wie ich behaupte, auch Eduard Bernstein. Schulze-Gaevernitz schildert uns die Entwicklungsgeschichte der „sozialistischen“ Ansichten J. S. Mills, wobei er sich auf seine Autobiographie stützt. Wir unsererseits können uns gleichfalls den Entwicklungsgang Eduard Bernsteins vorstellen, indem wir seine eigenen Erklärungen ins Auge fassen und mit den oben zitierten Ausführungen von Schulze-Gaevernitz von der geringen Bedeutung des Endzieles für „praktisch-politische“ Sozialisten in Zusammenhang bringen.

Nachdem Bernstein einmal die Ansicht des Schulze-Gaevernitz und anderer Harmonisten akzeptiert hat, daß der Entwicklungsgang des sozialen Lebens in England die Ansichten von Engels und Marx widerlegt habe, fühlt er sich zu dem von demselben Schulze-Gaevernitz geschilderten „praktisch-politischen“ Sozialismus hingezogen, von dessen Standpunkte das Endziel – die Verstaatlichung aller Produktionsmittel – tatsächlich als etwas fast Gleichgültiges, wenn nicht gar vollständig Utopisches erscheint. Und vom Geiste eines solchen Sozialismus durchdrungen, beeilte sich nun Bernstein sein neues Verhalten zum Endziele öffentlich kundzugeben, wobei die oben angeführte Bemerkung von Schulze-Gaevernitz über das Endziel nicht nur seine Gedankenrichtung, sondern auch seine Ausdrucksweise bestimmt hat. Auf diese Weise wird die Sache ganz klar und der famose Satz, der auf den ersten Blick im höchsten Grade absurd schien, gewinnt einen sehr klaren und sehr deutlichen Sinn. Allerdings schreckt Bernstein selbst vor diesem Sinne zurück. Das beweisen seine Erklärungen und Rechtfertigungen. Das zeigt gleichfalls sein Brief an den Stuttgarter Parteitag. In demselben sagt er: „Die Prognose, welche das ‚Kommunistische Manifest‘ der Entwicklung der modernen Gesellschaft stellt, war richtig, soweit sie die allgemeinen Tendenzen dieser Entwicklung kennzeichnete.“[2] Aber der weitere Inhalt des Briefes steht in offenbarstem Widerspruch mit diesen Worten, und wenn Bernstein selbst das nicht bemerkt oder bemerken will, so unterliegt dieser Widerspruch nichtsdestoweniger keinem Zweifel, ebenso für die Freunde unserer Sache wie für ihre Feinde. Trefflich haben Sie das in Ihrer Rede in Stuttgart betont, indem Sie sagten: „Er (Bernstein) setzt uns auseinander, daß die Zahl der Besitzenden, der Kapitalisten, wächst, daß also die Grundlagen falsch sind, auf denen wir unsere Ansichten aufgebaut haben. Ja, wenn das richtig wäre, dann wäre der Zeitpunkt unseres Sieges nicht nur sehr weit hinausgeschoben, sondern dann kämen wir überhaupt nicht an’s Ziel.“[3]

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[1] * Ebenda, S. 99.

[2] Parteitagsprotokoll Stuttgart 1898, S. 123.

[3] Ebenda, S. 127 f.