Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 222

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/222

XII Wofür sollen wir ihm dankbar sein?

Offener Brief an Karl Kautsky. Von G. Plechanow

(Fortsetzung.)

Nachdem Bernstein seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Endziele kundgegeben, sah er sich genötigt, sich zu erklären und zu rechtfertigen. Aber diese Erörterungen und Rechtfertigungen haben zu nichts geführt. Als ich dieselben las, überzeugte ich mich immer mehr von der Nützlichkeit jener altbewährten Regel, an der jeder Schriftsteller festhalten sollte, und die darin besteht, daß man zuerst an seinen Aufsätzen Korrektur vornimmt und sie dann erst drucken läßt, denn die Korrekturen, welche gemacht werden, nachdem der Aufsatz gedruckt ist, verbessern selten die Sache. Zugleich fragte ich mich, was denn eigentlich Bernstein zum Niederschreiben jenes Satzes hat veranlassen können, der doch offenbar gar keinen logischen Sinn oder, wie man sagt, weder Hand noch Fuß hat. Anfangs glaubte ich, daß er einen bekannten, wenn ich nicht irre, von Lessing herrührenden Spruch: Würde der Schöpfer der Welt in einer Hand die ganze Wahrheit und in der anderen das Streben nach derselben halten und mich vor die Wahl zwischen beiden stellen, so würde ich das Streben zur Wahrheit dem Besitze der fertigen Wahrheit vorziehen, – daß er diesen Spruch einfach nach eigener Facon, à la Bernstein, umgemodelt hat. Später aber hatte ich Gelegenheit, das Buch „Zum socialen Frieden“ durchzublättern und ich sah, daß der Ursprung des famosen Satzes ein ganz anderer ist.

Nach Schulze-Gaevernitz war die alte englische Ökonomie der Arbeiterschutzgesetzgebung feindlich gesinnt und mußte ihr auch feindlich gesinnt sein, sofern Letztere zur Beschränkung der individuellen Freiheit erwachsener Menschen führte. Indessen wären derartige Beschränkungen der individuellen Freiheit ein unvermeidliches Ergebnis der Fabrikgesetzgebung, die ihrerseits mit dem Wachstum des politischen Einflusses der arbeitenden Klasse habe fortschreiten müssen. Diese Verhältnisse hätten in England den Boden zur Aufnahme und Verbreitung der Theorie des kontinentalen Sozialismus vorbereitet, die allerdings dabei eine wesentliche Veränderung erlitten habe, da die „Behauptung, daß die Lage des Arbeiters hoffnungslos sei“ beseitigt worden wäre. „Der Sozialismus verliert damit seine revolutionäre Spitze“ – fährt dann Schulze-Gaevernitz fort – „und wird zur Begründung gesetzgeberischer Forderungen verwendet. Ob man als Endziel die Verstaatlichung aller Produktionsmittel annimmt oder verwirft, ist im Grunde hierbei gleichgültig; denn diese Forderung ist zwar für den revolutionären Sozialismus unentbehrlich, nicht aber für den praktisch-politischen, der nahe Ziele den entfernteren voranstellt.“[1]*

Zu den Vertretern des englischen „praktisch-politischen“ Sozialismus gehört nach Schulze-Gaevernitz J. S. Mill, der, obgleich kein Sozialist „im Sinne von Engels und

Nächste Seite »



[1] * Zum socialen Frieden, Bd. 2, S. 98.