Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 221

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Wissenschaft, die sich immer wieder mit den Tatsachen abfinden muß.“[1] Nichts richtiger als das. Aber glaubt denn Genosse Greulich wirklich, das große uns von Marx und Engels hinterlassene Erbteil könne etwas gewinnen durch eine eklektische Verquickung mit den Lehren der bürgerlichen Ökonomen? Kann er sich wirklich dazu entschließen, Kritik zu nennen, was nichts als ein gänzlich kritikloses Nachbeten dieser Lehren ist. Und bei Bernstein finden wir doch eben nichts Anderes als ein solches kritikloses Nachbeten. Nur dank diesem kritiklosen Nachbeten konnte er uns seine Regenwürmer auftischen.

Beiläufig will ich bemerken, daß es nicht Bernstein allein ist, der sich eines solchen kritiklosen Verhaltens gegenüber den Lehren unserer Gegner schuldig gemacht hat, obwohl gerade bei Bernstein dies am krassesten zu Tage getreten ist. Manch anderer unserer „gelehrten Genossen“ gefallen sich gelegentlich darin zu zeigen, daß sie sich sogar Marx selbst gegenüber „kritisch“ zu verhalten vermögen. Zu diesem Zwecke nehmen sie seine Theorie in jener verzerrten Gestalt, die ihr von den bürgerlichen Gegnern verliehen wurde, und mit den diesen Gegnern entlehnten Argumenten üben sie dann siegreich ihre „Kritik“.

Sie begreifen es wohl, hochverehrter und lieber Genosse, daß von einer derartigen „Kritik“ nicht etwa die sozialistische Theorie, sondern höchstens jenes Ansehen, welches die Herren „Kritiker“ in den Kreisen der gebildeten Bourgeoisie genießen, gewinnen kann.

Die Marsche Theorie ist keine ewige Wahrheit letzter Instanz. Das ist richtig. Aber sie ist die höchste soziale Wahrheit unserer Zeit, und wir haben ebenso wenig Grund, diese Theorie in die Scheidemünze der „wirtschaftlichen Harmonien“ der neuesten Bastiats und Says auszuwechseln, wie die dahingehenden Versuche als eine ernste Kritik zu begrüßen und ihnen unseren Beifall zu spenden.

Verzeihen Sie mir diese Abschweifung, hochverehrter und lieber Genosse. Ich kehre nun zu Bernstein zurück, und zwar zu der von nun an berühmt gewordenen „Endziel“-Episode.[2]

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[1] Parteitagsprotokoll Stuttgart 1898, S. 226. Das Zitat ist keine exakte Wiedergabe der Ausführungen Greulichs, der gesagt hatte: „Dieses Erbteil dürfen Sie nicht betrachten als eine Schatzkammer, an der nicht mehr gerührt wird (sehr gut!), sondern Sie müssen sie betrachten als ein Gut, das durch alle Zeit und durch alle Veränderung der Zustände gepflegt und gemehrt und lebendig erhalten werden muß. (Beifall.) Wir haben es nicht zu tun mit Wahrheiten in letzter Instanz, sondern mit einer Wissenschaft, die nur dann Wissenschaft ist, wenn sie jeweilen mit den Tatsachen sich wieder abfindet. (Sehr gut.)“

[2] Es handelt sich um Bernsteins Feststellung: „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus‘ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ Eduard Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. 2. Die Zusammenbruchstheorie und die Kolonialpolitik. In: Die Neue Zeit, XVI. Jg., 1897/1898, Erster Band, S. 556.