Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 220

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stein, uns zum Nachdenken angeregt hat? Nicht doch, hochverehrter und lieber Genosse. Wenn schon wirklich hier von einer Pflicht zur Dankbarkeit unsererseits die Rede sein soll, dann wollen wir doch gerecht sein und unseren Dank an die entsprechende Adresse richten. Richten wir ihn gleich überhaupt an alle Anhänger und Anbeter der „wirtschaftlichen Harmonien“ und vor allem selbstverständlich an den – unsterblichen Bastiat.

Bernstein hatte öfters sein Bedauern darüber ausgesprochen, daß die „ernsthaften Versuche, den wissenschaftlichen Sozialismus wissenschaftlich zu betätigen, noch sehr vereinzelt“[1] seien, und, indem er sich an seine „Probleme des Sozialismus“ machte, hoffte er offenbar, diese Lücke in der sozialistischen Literatur auszufüllen. Als ihm ein Parteiblatt den Vorwurf gemacht hatte, „an altbewährten sozialdemokratischen Theorien und Forderungen zu nörgeln und zu mäkeln“, da erwiderte er mit Stolz, „daß jedes theoretische Arbeiten im ‚Nörgeln‘ und ‚Mäkeln‘ an bisher angenommenen Sätzen“ bestehe und daß, „wenn die ‚Neue Zeit‘ theoretisches Organ der Sozialdemokratie sein soll, sie sich dieses ‚Nörgelns‘ nicht werde entschlagen können“. – „Zudem“ – fügt er hinzu – „welcher Irrtum wäre nicht zu irgendeiner Zeit ‚altbewährte‘ Wahrheit gewesen!“[2] Und was war das Ergebnis seines „theoretischen Arbeitens“? Einige spießbürgerliche Erwägungen, wie jene über die Wichtigkeit „des Prinzips der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit“ – und dann … entschiedene Schwenkung zum theoretischen Standpunkte der Gegner des wissenschaftlichen Sozialismus. Bernstein tischt uns „Wahrheiten“ der neueren bürgerlichen Ökonomie auf, und dabei bildet er sich ein, daß er „die Marxsche Theorie über den Punkt hinaus weiterbildet, wo der große Denker sie gelassen“. Welch seltsame Verblendung! Was Faust von Wagner, das kann man auch von Bernstein sagen, – daß er

Mit gier’ger Hand nach Schätzen gräbt

Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet![3]

Bei der Schließung des Stuttgarter Parteitages sagte Genosse Greulich, indem er Bernstein in Schutz nahm, unter anderem folgendes: „Ich bin der festen Überzeugung, daß unsere Sache nur gewinnen kann durch Kritik. Die deutsche Sozialdemokratie hat ein großes Erbteil angetreten von ihren großen Denkern Marx und Engels. Aber wir haben es auch da nicht zu tun mit Wahrheit in letzter Instanz, sondern mit einer

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[1] Eduard Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. In: Die Neue Zeit, XVI. Jg., 1897/1898, Erster Band, S. 553.

[2] Ebenda, S. 554.

[3] Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie. In: Goethe, Berliner Ausgabe, Bd. 8, Berlin/Weimar 1965, S. 168.