„Weit entfernt, daß die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, ist gerade das Gegenteil der Fall, wie für England statistisch nachgewiesen ist. Zu der Zeit, da die industriellen Arbeitgeber gesellschaftlich und politisch die erste Stelle erobern, beginnen hinter ihnen neue Mittelklassen emporzukommen, welche zuerst wirtschaftlich und dann politisch an Bedeutung gewinnen.“ (S. 225)[1] Die Ausführungen und Schlußfolgerungen von Schulze-Gaevernitz beziehen sich auf England. Er gibt zu, daß in anderen Ländern die Verhältnisse anders liegen und daß in Deutschland z. B. „die Mittelklassen noch vielfach abnehmen“. Er erklärt aber diese Tatsache einfach durch die Rückständigkeit Deutschlands und deutet auf diese Weise an, daß mit der Zeit das, was er in bezug auf England zu behaupten sich für berechtigt hält, auch für Deutschland seine volle Geltung haben würde.
Hier ist nicht der Ort zu zeigen, wie einseitig und tendenziös die Ausführungen und Schlußfolgerungen von Schulze-Gaevernitz sind. Sie wissen es auch, hochverehrter und lieber Genosse, selbstverständlich viel besser als ich. G. J. Goschen, gerade einer jener Forscher, die nachweisen wollten, daß in England jetzt eine neue Mittelklasse im Entstehen begriffen sei, bemerkt in seiner am 6. Dezember 1887 in der Londoner Statistischen Gesellschaft gehaltenen Rede: „Das für die Statistiker beleidigende Wort von ‚den Zahlen, die alles beweisen können‘ bedeutet nur soviel, daß Zahlen, die niemals Unwahres sagen, in einer Weise behandelt werden können, daß sie etwas Falsches beweisen. An sich lügen die Zahlen nie, aber jedermann muß gestehen, daß es kein anderes, gleich genaues und glaubwürdiges Material gibt, welches so leicht für Spezialzwecke entstellt werden könnte, wie gerade das statistische.“ Dieses Goschensche Wort kommt mir jedes Mal in Erinnerung, wenn ich gelegentlich die obenerwähnten Schriften von Schulze-Gaevernitz durchblättere. Ich will aber jetzt nicht näher darauf eingehen. Worauf ich Sie jetzt hinweisen wollte, ist, daß Bernstein nur das wiederholt, was schon einige Jahre vor ihm von Schulze-Gaevernitz gesagt worden ist.
Aber auch Schulze-Gaevernitz hat absolut nichts Neues gesagt. Noch vor ihm verbreiteten sich über das gleiche Thema mehrere englische Statistiker, wie z. B. der schon erwähnte Goschen, ebenso mehrere französische Ökonomisten, so z. B. Paul Leroy-Beaulieu in seinem „Versuch über die Verteilung des Reichtums und über die Tendenz zur geringsten Ungleichheit der socialen Lage“, Paris 1881. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die von mir zitierten Schriften von Schulze-Gaevernitz nichts anderes sind als eine neue Variation auf ein altes und namentlich von Paul Leroy-Beaulieu am eingehendsten behandeltes Thema. Bernstein trabt nur so hinter den bürgerlichen Ökonomen her. Weshalb sollen wir nun ihm und nicht jenen Ökonomen Dank wissen? Weshalb sollen wir behaupten, daß nicht sie, sondern er, Bern
[1] Gerhart von Schulze-Gaevernitz: Der Großbetrieb – ein wirtschaftlicher und socialer Fortschritt. Eine Studie auf dem Gebiete der Baumwollindustrie, Leipzig 1892, S. 225.