Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 218

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der gesellschaftlichen Verhältnisse“ – sagt er – „hat sich nicht in der Weise vollzogen, wie sie das Manifest schildert. Es ist nicht nur nutzlos, es ist auch die größte Torheit, sich dies zu verheimlichen. Die Zahl der Besitzenden ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Die enorme Vermehrung des gesellschaftlichen Reichtums wird nicht von einer zusammenschrumpfenden Zahl von Kapitalistenmagnaten, sondern von einer wachsenden Zahl von Kapitalisten aller Grade begleitet. Die Mittelschichten ändern ihren Charakter, aber sie verschwinden nicht aus der gesellschaftlichen Stufenleiter.“[1] Fügen wir nun zu diesen Ausführungen Bernsteins seine Bemerkungen hinzu, daß in manchen Industriezweigen die Konzentration sich sehr langsam vollzieht und daß künftighin die Handelskrisen nicht den akuten und allgemeinen Charakter haben dürften wie zuvor, so kann man mit vollem Rechte sagen, daß damit alle seine Argumente gegen die „Zusammenbruchstheorie“ erschöpft sind. Und nun sehen Sie sich, hochverehrter und lieber Genosse, diese Beweisführung aufmerksam an, und Sie werden selbst einsehen, daß darin nichts, aber auch gar nichts enthalten ist, was uns nicht schon unzählige Male von unseren Gegnern aus dem bürgerlichen Lager gesagt worden wäre. Dann werden Sie auch zugeben müssen, daß wir durchaus keinen Grund [haben], uns Bernstein gegenüber verpflichtet zu fühlen.

Es sind Ihnen gewiß die Schriften des Herrn Schulze-Gaevernitz bekannt. Nehmen Sie, bitte, sein Buch „Zum socialen Frieden“ und lesen Sie im 2. Bande die Seite 487 und folgende. Herr Schulze-Gaevernitz sucht daselbst die „Zusammenbruchstheorie“ zu widerlegen, die er folgendermaßen formuliert: „Die großindustrielle Entwicklung bedeute fortschreitende Herabdrückung der Arbeiter zum unterschiedslosen Proletariat, Häufung des Reichtums in wenigen Händen, Verschwinden der Mittelstände, Auftreten der sozialrevolutionären Partei.“ Nach Schulze-Gaevernitz stimmen nun die Tatsachen mit dieser Theorie nicht überein. „Die eingehende Statistik des ‚Board of Trade‘ stellt für England das Gegenteil fest, womit der sozial-revolutionären Richtung der Boden entzogen wird.“[2] Einerseits habe sich die wirtschaftliche Lage der Arbeiter im Laufe der letzten 50 Jahre fortwährend verbessert, andererseits habe „jene weit verbreitete Vorstellung, wonach der Besitz in immer weniger Hände zusammenfließt“,[3] sich als irrtümlich erwiesen. Schließlich ziehe die Verbreitung der Aktiengesellschaften immer zahlreichere Besitzer kleiner Ersparnisse zur Teilnahme an den Profiten großer industrieller Unternehmungen heran. Alle diese Umstände zusammen genommen geben nach Schulze-Gaevernitz für die friedliche Lösung der sozialen Frage Gewähr.

Die gleichen Ansichten bringt er auch in seinem anderen Werke: „Der Großbetrieb – ein wirtschaftlicher und socialer Fortschritt“ zum Ausdruck:

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[1] Eduard Bernstein: Brief an den Parteitag. In: Parteitagsprotokoll Stuttgart 1898, S. 123.

[2] Gerhart von Schulze-Gaevernitz: Zum socialen Frieden. Zweites Buch. Die socialen Richtungen der Gegenwart. (Fünftes und sechstes Kapitel), Leipzig 1890, Bd. 2, S. 487.

[3] Ebenda, S. 491.