an dem wissenschaftlichen Sozialismus Kritik übte, am Ende dazu gekommen, auch an der rein philosophischen Weltanschauung von Marx und Engels, an der materialistischen Philosophie zu zweifeln und sich für die idealistische Philosophie von Kant zu begeistern. Wenn die Bernsteinsche Theorie auch vor allem eine Widerlegung auf zwei Gebieten erforderte, erstens in bezug auf die Taktik der praktischen Tätigkeit der Sozialdemokratie, zweitens in bezug auf die allgemeinen ökonomischen und sozialen Grundlagen des sozialdemokratischen Programms, so ist auch von großem Interesse eine Auseinandersetzung über die materialistische Naturphilosophie, die Ed. Bernstein, ebenso wie Conrad Schmidt, durch den Kantschen Idealismus zu „vervollständigen“ sich anschickten. Diese letzte Seite der Bernstein-Schmidtschen Anschauungen behandelt eben Genosse Plechanow in der neuesten Nummer der „Neuen Zeit“.[1] Er widerlegt gründlich die philosophischen Irrtümer Schmidts und erklärt zum Schluß in folgender glänzender Weise den Zusammenhang zwischen den Neigungen der beiden zur idealistischen Philosophie und ihrem Frontwechsel in den Fragen des praktischen Kampfes der Sozialdemokratie:
„Die Abneigung der Bourgeoisie gegen den Materialismus und ihre Vorliebe für die Kantsche Lehre sind nicht erstaunlich. Die Bourgeoisie hofft in Kants Philosophie das ‚Opium‘ zu finden, durch das sie das Proletariat einschläfern möchte, das immer ‚begehrlicher‘ und unlenksamer wird. Der Neo-Kantianismus ist für die herrschende Klasse gerade deswegen in Mode gekommen, weil er ihr eine geistige Waffe im Kampfe ums Dasein liefert.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß die unterdrückte Klasse oft die unterdrückende Klasse nachahmt. Aber wann tritt diese Nachahmung ein? Wenn die unterdrückte Klasse noch nicht revoltiert oder schon nicht mehr revoltiert. Diese Nachahmung ist bezeichnend für den Mangel an revolutionärem Gefühl auf seiten der unterdrückten Klasse. Deshalb ist auch das Zurückgehen auf Kant, das sich manche Genossen angelegen sein ließen, ein schlimmes Zeichen. Es ist ein Ausdruck jenes opportunistischen Geistes, der leider in unseren Reihen große Fortschritte macht.
Der Umstand verdient die Aufmerksamkeit aller, denen unsere Sache am Herzen liegt, daß Genosse Bernstein für den Neo-Kantianismus eine Schwäche gerade in dem Augenblick empfunden hat, wo er, um das zu bekämpfen, was er die revolutionäre Phrase zu benennen geruht, damit anfing, die opportunistische Phraseologie in ausgiebigem Maße zu gebrauchen und zu mißbrauchen.“[2]
[1] Siehe Georgi Plechanow: Conrad Schmidt gegen Karl Marx und Friedrich Engels. In: Die Neue Zeit, XVII. Jg., 1898/1899, Erster Band, S. 133 ff. – Ders.: Eine Kritik unserer Kritiker. Schriften aus den Jahren 1898 bis 1911, Berlin 1982, S. 39 f.
[2] Die Neue Zeit, XVII. Jg., 1898/1899, Erster Band, S. 145.