Zweitens, Adler und auch andere haben daran Anstoß genommen, daß ich mit der Entwicklung demokratischer Einrichtungen eine Milderung der Klassenkämpfe in Aussicht stellte, und meinen, da sähe ich die Verhältnisse lediglich durch die englische Brille. Letzteres ist durchaus nicht der Fall. Selbst angenommen, daß der Satz: „das entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten das Bild der eigenen Zukunft“, neuerdings seine Geltung eingebüßt hätte und alle Unterschiede zwischen der festländischen und der englischen Entwicklung, die ja auch mir nicht ganz unbekannt sind, voll berücksichtigt, so stützt meine Ansicht sich auf Erscheinungen auf dem Festlande, die man in der Hitze des Kampfes allenfalls zeitweise übersehen, die man aber nicht dauernd verkennen kann. Überall in vorgeschritteneren Ländern sehen wir den Klassenkampf mildere Formen annehmen, und es wäre ein wenig hoffnungsvoller Ausblick in die Zukunft, wenn es anders wäre. Selbstverständlich schließt der allgemeine Gang der Entwicklung periodische Rückfälle nicht aus, aber wenn man sich vergegenwärtigt, welche Stellung z. B. selbst in Deutschland ein wachsender Teil des bürgerlichen Publikums heute den Streiks gegenüber einnimmt, wie viele Streiks heute auch dort in ganz anderer, verständigerer Weise behandelt werden, wie noch vor zehn und 20 Jahren, so kann man doch nicht bestreiten, daß hier ein Fortschritt zu verzeichnen ist. Sagt das auch nicht – um mit Marx zu reden – „daß morgen Wunder geschehen werden“, so zeigt es doch nach meinem Dafürhalten der sozialistischen Bewegung einen hoffnungsvolleren Weg als die Katastrophentheorie, und braucht weder der Begeisterung noch der Energie ihrer Kämpfer Abbruch zu tun. Das wird mir Adler gewiß nicht bestreiten.
Es gab eine Zeit, wo die von mir ausgedrückte Auffassung auf keinen Widerspruch in der Partei gestoßen wäre. Wenn das heute anders ist, so sehe ich darin nur eine begreifliche Reaktion gegen gewisse Erscheinungen des Tages, die mit diesen Tageserscheinungen vergehen und der Rückkehr zu der Erkenntnis Platz machen wird, daß mit der Zunahme demokratischer Einrichtungen die humanere Auffassungsweise, die sich in unserem sonstigen sozialen Leben langsam aber stetig Bahn bricht, auch vor den bedeutsameren Klassenkämpfen nicht Halt machen kann, sondern für sie ebenfalls mildere Formen der Austragung schaffen wird. Wir setzen heute durch Stimmzettel, Demonstration und ähnliche Pressionsmittel Reformen durch, für die es vor hundert Jahren blutiger Revolutionen bedurft hätte.
London, den 20. Okt[ober] 1898
Ed. Bernstein
IX
Genosse Ed. Bernstein ist in seiner Artikelserie in der „Neuen Zeit“, „Probleme des Sozialismus“,[1] in der er Stück für Stück an den Grundlagen der Sozialdemokratie,
[1] Siehe Eduard Bernstein: Probleme des Sozialismus. Eigenes und Übersetztes. In: Die Neue Zeit, Jg. XV, 1896/1897, Erster Band, S. 164 ff., 204 ff., 303 ff. und 772 ff.; ders.: Probleme des Sozialismus, ebenda, Zweiter Band, S. 100 ff. und 138 ff.; ders.: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. In: Die Neue Zeit, XVI. Jg., 1897/98, Erster Band, S. 484 ff., und 548 ff.; ders.: Kritisches Zwischenspiel, ebenda, S. 740 ff. Redaktionelle Anmerkung der Neuen Zeit: „Eine Diskutierung der Bernsteinschen Ideen erscheint uns daher erst dann zweckmäßig, wenn die von ihm begonnene Artikelreihe abgeschlossen ist.“ Ebenda, S. 740. Eduard Bernstein: Das realistische und das ideologische Moment im Sozialismus. Probleme des Sozialismus, 2. Serie II, ebenda, Zweiter Band, S. 225 ff. und 388 ff.