Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 200

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zu bewilligen, übersieht den Umstand, daß die Arbeiterklasse durch Verstärkung des Militarismus dem Klassenstaat selbst die Mittel zu ihrer eigenen Vernichtung liefern würde;

2. die Auffassung, daß das Endziel nur eine Dekoration des Parteiprogramms darstelle, die nur bei außergewöhnlichen Anlässen zur Schau getragen zu werden brauche, die aber für die praktische Agitation, namentlich die Landagitation, ohne Bedeutung, wo nicht überflüssig oder gar hinderlich sei, ist als irrtümliche Privatmeinung einzelner Genossen zu bezeichnen. Die Endziele geben nicht nur der ganzen Bewegung die Richtung an, sondern ihre Betonung verleiht auch der Sozialdemokratie jene Begeisterung und Werbekraft, die sie vor allen Parteien auszeichnet und die Sache der Proletarier zur Sache der Menschheit macht. Der Landagitation diesen prinzipiellen Untergrund rauben, heißt die gegnerische Legende vom antikollektivistischen Bauernschädel unsererseits akzeptieren, deshalb begrüßen es die Kieler Parteigenossen mit Genugtuung, daß der Parteitag in seiner Majorität für die Beibehaltung der altbewährten sozialrevolutionären Taktik der Partei sich entschieden hat;

3. der Gegensatz zwischen Theoretikern und Praktikern, der auf dem Parteitag zu konstatieren versucht wurde, kann und darf in Wirklichkeit nicht existieren. Praktische Arbeit, die nicht durch die Theorie ihre Direktive erhielte, würde notwendigerweise in unzusammenhängendes Experimentieren ausarten. Theorie ohne Praxis kennzeichnet den längst überwundenen utopistischen Entwicklungsstandpunkt des Sozialismus.“[1]

VI

In einer großen Parteiversammlung in Dresden-Altstadt am 20. Oktober, die sich mit der Berichterstattung über den Parteitag in Stuttgart beschäftigte, wurde folgende Resolution angenommen:

„Die heute am 20. Oktober 1898 im ‚Trianon‘ tagende sozialdemokratische Parteiversammlung für den 5. sächsischen Reichstagswahlkreis erklärt sich mit den Beschlüssen des Stuttgarter Parteitages einverstanden. Sie spricht ihre besondere Genugtuung über die Ergebnisse der Debatte betreffend die Taktik aus, welche gezeigt haben, daß die Partei an dem alten proletarisch-revolutionären Standpunkt festhält, daß sie entschlossen ist, neben dem Kampf um die Aufbesserung der Lage der Arbeiterklasse im Rahmen der kapitalistischen Ordnung unentwegt ihr Endziel, d. h. die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat behufs endgültiger Befreiung der Arbeiterklasse von der Lohnsklaverei zu verfolgen, und daß sie ihren alltäglichen politischen Kampf als Mittel zur Erreichung dieses Zieles betrachtet.“

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[1] Vorwärts, Nr. 245 vom 19. Oktober 1898.