Anarchisten spekulieren auf die Verelendung der Massen, weshalb sie konsequenterweise auch als die politischen und theoretischen Vertreter des Lumpenproletariats betrachtet werden müssen. Die Sozialdemokratie stützt sich stets ganz umgekehrt auf den Aufstieg der Arbeiterklasse, auf die Hebung ihrer Lage. Genosse „gr.“ dürfte schon von der „verdammten Bedürfnislosigkeit“ der Arbeiter gehört haben, gegen die Lassalle seinerzeit donnerte. Was den Punkt bildet, an dem die Sozialdemokratie den Hebel ihrer Agitation ansetzt, ist nicht die absolute Verelendung der Arbeiterklasse, sondern der relative Rückgang ihres Anteils an dem von ihr geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum, ein Rückgang, der mit dem absoluten Steigen der Lebenshaltung Hand in Hand gehen kann und auch tatsächlich geht. Die das Proletariat emporhebende Tendenz der kapitalistischen Entwicklung ist also nicht der Boden einer besonderen Richtung innerhalb der Sozialdemokratie, sondern der gemeinsame Boden der Sozialdemokratie im ganzen.
Dementsprechend kann es sich innerhalb der Sozialdemokratie nicht darum handeln, ob für das Proletariat auf dem Boden der bestehenden Gesellschaft durch praktische Tätigkeit etwas zu erstreben sei oder ob „man alles von dem Zusammenbruch erwarten“ soll. Die praktische alltägliche Tätigkeit behufs Aufbesserung der Lage der Arbeiterklasse ist vielmehr der einzige Modus überhaupt, sich sozialdemokratisch zu betätigen und auf den Zusammenbruch des Kapitalismus hinzuarbeiten. Die Frage, um die sich die Kontroverse dreht, ist eine ganz andere, nämlich: ob dieser praktische alltägliche Kampf, die Gewerkschaften, die Sozialreformen, die Demokratisierung des Staates, ob sie eine unmittelbare sozialisierende Wirkung haben, die durch einfachen sozialen Stoffwechsel die kapitalistische Gesellschaft unmerklich in eine sozialistische verwandelt, d. h., ob sie den Sozialismus stückweise verwirklicht – dies der Standpunkt des Opportunismus – oder ob der praktische Kampf bloß dazu dient, die Arbeiterklasse materiell zu konsolidieren, politisch zu organisieren und aufzuklären, um sie zu der Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft durch eine politische und soziale Umwälzung und zur Einführung des Sozialismus vorzubereiten. Was also wiederum in Frage steht, ist nicht der positive alltägliche Kampf selbst, der vielmehr gerade das politische Merkmal der Sozialdemokratie im ganzen im Unterschied vom Anarchismus bildet, sondern die Auffassung von der Tragweite, von den sozialen Folgen dieses Kampfes im Zusammenhang mit diesem oder jenem Gang der objektiven kapitalistischen Entwicklung.
Ebenso irrtümlich ist die andere Entgegenstellung des Genossen „gr.“ – die von „Katastrophen“ und „Entwicklung“. Hat Genosse „gr.“ seinen Hegel vergessen, so raten wir ihm, wenigstens das prächtige Kapitel im Engelsschen „Anti-Dühring“ über Quantität und Qualität nachzuschlagen, um sich zu überzeugen, daß Katastrophen nicht einen Gegensatz zur Entwicklung, sondern ein Moment, eine Phase der Entwicklung darstellen, daß, wer auf der Entwicklungslinie die „Knoten“ übersieht, ebenso wenig das Wesen der Entwicklung erfaßt wie derjenige, der sich umgekehrt