Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 109

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tungsbedürfnis des Kapitals“. Dieses hängt aber einerseits von dem Markte ab u. ist, da der Markt heute ein Weltmarkt geworden, auf dem worauf Weltorkane wüten, eine jeden Augenblick veränderliche Größe ist, andererseits von der Produktionstechnik, welche ebenfalls alle Augenblicke das Verwertungsbedürfnis des Kapitals verschiebt. Somit hängt heute die sog. Nachfrage nach Arbeit weder von der Kapitalgröße noch von der Arbeiterzahl, sondern von der ganzen Summe der Markt- u. Produktionsbedingungen [ab], welche beständig fluktuieren u. deren Summe eben die ganze heutige Produktionsweise bildet. Das heutige Lohngesetz – ruft Marx aus – ist schlimmer als „ehern“ – es ist elastisch! Sein Name ist heute weder „Lohnfonds“, noch ? ein anderes Spezialgesetz, sondern – die ganze heutige Wirtschaft, sondern – der

IV

Kapitalismus selbst! …

Wir haben eingangs erwähnt, daß eine neue Theorie, diejenige von Prof. J. Wolf, beide vorhergehenden – die Lohnfondstheorie wie die Theorie der industriellen Reservearmee von Marx verwirft. Prof. Wolf sagt, die Theorie Ricardo-Lassalle sei falsch, weil erstens erhöhter Lohn nicht notwendig vermehrte Kinderzeugung hervorruft, u. zweitens die Nachfrage nach Arbeitern mit ihrer Zahl auch zunehmen kann. Diese beiden Argumente stimmen im wesentlichen mit der Kritik, die Marx der Lohnfondstheorie widerfahren läßt, vollständig überein, u. insoweit ließe sich eine gemeinsame Theorie bis zu einem gewissen Grade ermitteln. Anders in bezug auf die positiven Sätze der Marx’schen Lohntheorie. Die extensive Erweiterung der Produktion – sagt Prof. Wolf – geht rascher vor sich, als die Intensivierung derselben durch die Fortschritte der Technik, u. die Reservearmee wächst deshalb nicht, sondern vermindert sich allmählich. Es ist schwierig – wir gestehen es zu – in diesen Fragen unmittelbare Beweise darzubringen. Wenn die Marx’sche Schule eine Reihe statistischer Daten zur Unterstützung ihrer Behauptungen anführt, so stellt Prof. Wolf denselben eine Reihe anderer Ergebnisse der Statistik entgegen. Bei dem heutigen Stand der Statistik kann sie bekanntlich in gleichem Maße für wi u. wider jede Behauptung Zeugnis ablegen.

Wir meinten jedoch, die Beweise wären eben auf indirektem Wege zu suchen, in solchen sozialen Phänomena, die uns nur durch die Annahme einer fortschreitenden Proletarisierung erklärt werden können. So z. B. die überseeische Auswanderung, so die verzweifelten Versuche aller Regierungen, den Mittelstand zu „retten“ (siehe neulich den Vorschlag der staatlichen Organisation des deutschen Handwerks!), so die Leichtigkeit, womit die größten Arbeitsausstände durch Anwendung von industriellen „Reservisten“ gebrochen werden (siehe den letzten Hamburger Streik[1]), so die un

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[1] Vom 21. November 1896 bis 9. Februar 1897 streikten in Hamburg rund 16000 Hafenarbeiter. Mit solidarischen Unterstützungsgeldern von 1613600 Mark deutscher und ausländischer Arbeiter brachten sie für 11 Wochen den Hafenbetrieb zum Erliegen. Sie forderten höhere Löhne und eine Arbeitszeit von acht Stunden an Sonntagen und von 12 Stunden an Werktagen. Sie mußten sich brutaler Unterdrückungsmaßnahmen des Großkapitals erwehren. Über 500 Streikende wurden verhaftet, mehr als 37 Jahre Gefängnis und 1418 Mark Geldstrafen verhängt. Obwohl der Streik nur geringe Lohnzugeständnisse erbrachte und eine Niederlage erlitt, galt er als ein Höhepunkt der Streikbewegung in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts.