Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 107

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wo er seine „Kompensationstheorie“ in klassischer Weise selbst widerlegt u. so den aufgestellten Satz von dem Lohnfonds indirekt u. unbewußt über den Haufen wirft. Und wenn heute im Zeitalter der Krupp u. Stumm deutsche Nationalökonomen die alte Theorie vom Lohnfonds wieder auftischen, um die modernen Phänomena des Kapitalismus mit Fetzen der alten klassischen Theorie zu verkleistern, so ist das ein Stück jener Arbeit, die schon Heine kannte besang:

Des Weltbaus Löcher verstopfen sie

mit alten Schlafröcken u. Mützen.[1]

Übrigens diente die alte Lohnfondstheorie nicht nur zum Verstopfen der Löcher des kapitalistischen Weltbaus. Ein wahrer Kern lag in ihr auch unabhängig

III

von der spezifisch-historischen Berechtigung: Sie war die erste allgemeine theoretische Formulierung der sozialen Abhängigkeit der Arbeiterklasse vom Kapital. Nun war aber daraus zweierlei Schlußfolgerung möglich. In den Händen Lassalles wurde die Lohnfondstheorie zum gewaltigen revolutionären Hebel des Emanzipationskampfes der Arbeiterklasse. Jeremias Bentham, der Vater der „Nützlichkeitslehre“, wußte die Lohnfonds-Theorie auf andere Weise „nützlich“ zu machen: Er schmiedete daraus ein Dogma, das jede soziale Verantwortlichkeit des Kapitalisten aufheben u. von dem alle Ansprüche der Arbeiterklasse abprallen sollten.

1817 ist das Werk Ricardos mit der klarsten u. entschiedensten Formulierung der Lohnfondstheorie erschienen. Nach sieben Jahren trat ihr schon die Kritik entgegen. William Thompson in seinem „Inquiry into the Principles of the Distribution of Wealth“ 1824 richtet sein Augenmerk darauf, daß es durchaus einseitig sei, nur die Menge des akkumulierten Kapitals in Betracht zu ziehen, da doch die jeweiligen Produktivkräfte der Nation (potenziell) u. sogar die jährliche Konsumtion derselben unendlich größer sei als dasselbe. Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Hinweis, wenn auch an sich sehr richtig, der kritisierten Theorie kein Haar krümmen konnte, da doch bei der Besprechung des Arbeitslohns nicht der existierende, oder vergangene, oder künftige Reichtum der Welt in Betracht kommt, sondern lediglich diejenige jeweilige Portion desselben, die dem Arbeiter in Gestalt von Privatkapital entgegentritt. Zwischen dem Reichtum, der Produktivkraft der Gesellschaft im ganzen u. der Arbeiterklasse steht eben der einzelne Kapitalist mit seiner Nachfrage u. auf diese kommt es uns nur an. Die Kritik von Thompson würde auch ganz unverständlich scheinen, wenn wir nicht wüßten, daß er jener utopistischen Schule alter englischer Sozialisten [an]gehört, die

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[1] Sinngemäß wiedergegeben, siehe: Die Heimkehr, 1823–1824, wo es unter 58 heißt:

„Zu fragmentarisch ist Welt und Leben!

Ich will mich zum deutschen Professor begeben.

Der weiß das Leben zusammenzusetzen,

Und er macht ein verständlich System daraus;

Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen

Stopft er die Lücken des Weltenbaus.“

Heinrich Heine: Werke und Briefe, Berlin und Weimar 1980, Bd. 1, S. 133.