Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 105

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Hier muß die objektive materielle Basis der Theorie entdeckt werden u. die letzte also nicht von sich heraus, nicht vom logisch-theoretischen, sondern vom materiell-geschichtlichen Standpunkt betrachtet werden. Die erste kritische Methode urteilt absolut, wie die Geschworenen: auf „schuldig“ oder „unschuldig“ (resp. „wahr“ oder „falsch“). Die zweite zieht in Betracht die Relativität der Wahrheit, nämlich die zeitlich bedingte Wahrheit, sie zeigt verurteilt nicht die Theorie, sie

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zeigt nur, daß die Theorie event. veraltet ist. Wir glauben, daß es keine wirksamere Widerlegung gibt als die, welche dartut, in welchem sozialen Zusammenhang eine Lehre „Vernunft“ war, u. daraus folgern läßt, in welchem anderen sie zum „Unsinn“ wird. Freilich läßt sich diese Methode nicht in allen Fällen anwenden: was bei einem Smith oder Ricardo an der Schwelle des Jahrhunderts ein historisch bedingter Irrtum, ist bei einem Brentano, am Ausgang des Jahrhunderts, nur Apologetentum, und wenn vielleicht in beiden Fällen „materielle Verhältnisse“ weitge die Schuld an der Theorie tragen, so doch in ganz verschiedenem Sinne…

Bevor wir die Lohnfondstheorie vom theoretischen Standpunkt kritisieren, wollen wir sie kurz historisch betrachten.

Was besagt uns – kurz gefaßt – die genannte Theorie?

Es gibt in jedem Zeitpunkt ein quantitativ bestimmtes Kapital, welches die Nachfrage nach Arbeitshänden darstellt. Im Verhältnis zu diesem Kapital ergibt eine kleinere oder größere Menge von Arbeitshänden größere oder kleinere Arbeitslöhne.

Es ist klar, daß, soll diese Theorie ihre Berechtigung haben, eine Grundbedingung in den sozialen Verhältnissen notwendig ist: ein solcher Grad von Stabilität in den Produktionsbedingungen, bei dem erstens das technisch gegebene Verhältnis von einer bestimmten Portion Kapitals zu der von ihm beschäftigten Menge von Arbeitshänden, zweitens das durch Marktbedingungen gegebene Verhältnis der Produktions- u. Austauschperioden zu den menschlichen Fortpflanzungsperioden als ein Konstantes betrachtet werden kann. Beides Bedingungen, auf die unsere heutige Kapitalwirtschaft mit einem Lächeln der Überlegenheit zurückschaut und die ihr wie „ein Märchen aus uralten Zeiten“ vorkommen. Erstens kann heute nicht nur in jedem Zeitpunkt eine u. dieselbe Portion Kapital – je nach der Technik der Produktion, dem Exploitationsgrad (Länge des Arbeitstages, Intensität der Arbeit im Zusammenhang mit den Lohnformen: Stücklohn!) – ganz verschiedene Mengen von Arbeitskräften anspannen, sondern es wird dieses Verhältnis auch jeden Augenblick von den Fortschritten in der Technik wieder verschoben, so daß ebenso räumlich, wie zeitlich ein constanter Coefficient von Kapital u. Arbeit nur eine Fiktion ist. Zweitens aber decken sich die modernen Produktionsperioden nicht entfernt mit den menschlichen Fortpflanzungsperioden. Während letztere ungefähr 25 Jahre betragen, dauert der heutige Produktionszyklus nicht einmal die Hälfte dieser Zeit. Ziehen wir in Betracht nur die

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