Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 80

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Programm erheben und dann mit dieser sozial- und geschichtlich-bankrotten Losung sich an die Arbeiterklasse zu klammern suchen würden. Es galt nun für die Gründer der polnischen Arbeiterbewegung, durch Aufstellung eines klaren und unzweideutigen Arbeiterprogramms alle solche Versuche von vornherein zu vereiteln. Sie verstanden auch dieser Aufgabe Rechnung zu tragen, und mit aller Energie ihres mächtigen Geistes suchten sie die Arbeiter über die Prinzipien des internationalen Sozialismus klarzumachen. Eure Interessen – riefen sie den polnischen Proletariern zu – sind Klasseninteressen und keine nationalen Interessen. Nicht die Wiederherstellung eines polnischen Nationalstaates, sondern die Erringung politischer Rechte und Klassenkampf in den Staaten, wo ihr ausgebeutet und geknechtet werdet, ist eure Aufgabe!

Mit Leidenschaft, mit Wut fast bekämpfen sie alle Versuche der „Patrioten“, in ihrer reinen unverfälschten Form oder auch in sozialistischer Tracht als Sozialpatrioten, in die Arbeiterbewegung einzudringen. Denn bereits damals begannen schon die schwachen Versuche des Nationalismus, sich den Arbeitern zum nächsten Programm aufzudringen.

Im Jahre 1881, in Beantwortung eines damals erschienenen sozialpatriotischen Programms schreibt Ludwig Waryn´ski, das geistige Haupt der Märtyrerschar und der ganzen Partei, folgendes: „Die klare oder verschleierte Aufstellung eines solchen Programms für alle drei Teile Polens, ebenso wie für jeden einzelnen derselben ist schädlich für die Aufgaben, denen die Sozialisten in ihrer Tätigkeit Rechnung tragen müssen. Die unmittelbaren politischen Programme, die von den Sozialisten für den alltäglichen Kampf mit dem Kapital aufgestellt werden, haben zum Zweck nicht ‚die nationale Wiedergeburt‘, sondern die Erweiterung der politischen Rechte des Proletariats, die Ermöglichung einer Massenorganisation zum Kampfe mit der Bourgeoisie als einer politischen und sozialen Klasse.“[1]*

Jede Gelegenheit benutzten die Männer dazu, um zwischen der Arbeiterbewegung und der patriotischen Richtung das Tischtuch endgültig zu zerschneiden und eine unübersteigbare Mauer zu errichten. So veranstalteten sie 1881 in Genf ein großes internationales Meeting zur 50jährigen Erinnerung an den polnischen Aufstand,[2] an welchem sie in Gegenwart und unter Teilnahme mehrerer hervorragender Sozialisten verschiedener Nationen, wie J. Ph. Becker, Wera Sassulitsch u. a., die alte Losung von der Wiederherstellung Polens von sich warfen, um an deren Stelle das internationale Banner der reinen Arbeiterbewegung einzuweihen.

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[1] * Siehe Przeds´wit, 1881, Nr. 3 und 4. Die Zeitschrift verfocht ab 1893 nationalistische Positionen.

[2] Die polnische Befreiungsbewegung gegen die nationale Unterdrückung durch den russischen Zarismus führte im November 1830 zum Aufstand im Königreich Polen, bei dem der Oberbefehlshaber über die polnischen Truppen, der Bruder des Zaren, aus Warschau vertrieben und am 25. Januar 1831 das Haus Romanow vom polnischen Reichstag für abgesetzt erklärt wurde. Mit der Einnahme Warschaus am 7. September 1831 durch zaristische Truppen wurde der Aufstand niedergeworfen.