Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 784

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Wahrscheinlich eine Ente

Petersburg, 9. Dezember. Die Führer der revolutionären Bewegung haben, wie nunmehr verlautet, den Priester Gapon zum Tode verurteilt, indem sie ihn beschuldigen, daß er für den Zarismus gewonnen worden sei. Die angebliche Auslandsreise Gapons sei eine regelrechte Flucht vor seinen bisherigen Genossen. Gapon soll bereits die deutsche Grenze überschritten haben, um sich nach Frankreich zu wenden.[1]

Eine lustige Meldung

Ein offiziöses Telegramm aus Petersburg lautet: Petersburg, 8. Dezember. Hier herrscht Ruhe. Alle im Auslande umgehenden Gerüchte sind unbegründet. Die Arbeiterschaft ist des Streikes müde und nimmt überall zu den alten Bedingungen die Arbeit wieder auf. Auch das Militär kehrt zur Disziplin zurück.

Witte am Ende des Lateins[2]

Der „Frankfurter Ztg.“ wird berichtet: Petersburg, 8. Dezember. Witte, dessen Antwort auf die Eingabe der Semstwodeputation das Regierungsprogramm enthalten wird, hat die Richtung nach dem reaktionären Lager eingeschlagen. Das bedeutet für ihn selbst den Sturz. Sein Empfang der Semstwodeputation manifestiert den endgültigen Bruch mit den Liberalen. In diesem Augenblick aber sind den Reaktionären andere Persönlichkeiten der reaktionären Richtung angenehmer und bequemer als Witte, dem sie nicht unbedingt vertrauen. Gegenwärtig hat die größten Chancen Durnowo[3], der erklärte, die einzigen Männer und Parteien, mit denen die Regierung gehen könne, seien der berüchtigte Reaktionär Graf Dobrinski (Tule) und der Agrarierverband, dessen Kongreß eben in Moskau tagte. Man scheint einen größeren revolutionären Ausbruch hervorrufen zu wollen, um ihn unerbittlich mit Kanonen und Kartätschen zu unterdrücken.

Das war ein vorauszusehendes Ende des Eiertanzes, den der Liebling des deutschen Liberalismus mit solcher Virtuosität vollführte.

Hannibal ante portas!

Im eigenen Palais findet der kleine Nikolai nicht einmal Ruhe vor dem Generalstreik. Eine russische Korrespondenz meldet: In Zarskoe Selo ist im Palais des Zaren ein Streik unter den Bedienten, Köchen und anderen Angestellten ausgebrochen; sie verlangen Erhöhung der Gagen. Der Minister des Hofes hat alle Forderungen der Streikenden bewilligt.

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[1] Siehe dazu auch Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 775 und 780.

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[3] Pjotr Durnowo war vom 30. Oktober 1905 bis 22. April 1906 Innenminister.