Die Revolution in Rußland[1]
Der Streik der Post- und Telegraphenbeamten dauert fort! Die zaristische Regierung sucht zwar mit allen Mitteln dem Auslande vorzumachen, als sei der Streik „im Abflauen“. Sie verbreitet das folgende Telegramm: Die bestimmte Haltung der Regierung und der Anschluß des Verbandes der Post- und Telegraphenbeamten an den Rat der Arbeiterdeputierten, welcher eine Spaltung unter den ausständigen Post- und Telegraphenbeamten hervorrief, scheint dem Ausstand ein Ende bereiten zu wollen. Diese Meinung war auch im gestrigen Ministerrat vertreten, der bei dem Beschluß zu verharren beschloß, den Verband der Post- und Telegraphenbeamten nicht zu genehmigen. Der hiesige Postdirektor ordnete die Ausweisung von über 200 Postbeamten aus ihren im Postgebäude befindlichen Wohnungen sowie die Entlassung von 323 Beamten der Postbüros und 800 Briefträgern an. Die Briefträger werden ohne weiteres wieder aufgenommen, die Beamten auf Bittgesuch hin, falls es der Grad ihrer Teilnahme am Ausstand gestattet.
Gestern, am 6. Dezember, hat ein Teil der Beamten die Arbeit wieder aufgenommen. – Die finnländischen Post- und Telegraphenbeamten haben telegraphisch den Anschluß an die russischen Arbeiter abgelehnt.
Allein solche Nachrichten über das „Abflauen“ des Streiks kommen ja aus Rußland bereits seit dem ersten Tage der Streikbewegung. Das „Berliner Tageblatt“ bringt das folgende Privattelegramm aus Petersburg: Obgleich die Post hier arbeitet, so erscheint die ganze Arbeit mehr als Spielerei und hat nur rein lokale Bedeutung, solange die Provinzen weiter streiken. Gestern nahm auch der Telegraph teilweise die Arbeit mit einzelnen Städten auf. Die Mehrzahl der Geschäftsleute und Banken nimmt aber nicht die Dienste der Post in Anspruch, sondern sendet ihre Sachen durch Kuriere nach der Grenze und den inneren Städten. Die Geschäftslage ist äußerst kritisch geworden. Obwohl die vier Prozent Rente auf der Mittwochbörse mit 74 notierte, wird sie mit 60 gekauft, doch wird dieser Kurs nicht eingetragen. Der Streik dürfte sich immerhin noch mehrere Tage hinziehen.
Gestern kehrten die Delegierten des Konseils [Rats] der Arbeiter aus den verschiedenen Städten Rußlands zurück. Das Resultat ihrer Reise ist, daß ein allrussischer
[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.