Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 662

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Das neue Kabinett

Petersburg, 10. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Heute ist ein kaiserlicher Ukas erschienen, welcher die Ernennung folgender Minister enthält: Schipow Finanzen, Timirjasew Handel, Nemeschaew Verkehrswege, Filosofow Reichskontrolleur, Kutler Ackerbau. Dem Vizepräsidenten der Künstlerakademie, Hofmeister Grafen Tolstoi, wurde der Abschied bewilligt.

Von all diesen Biedermännern ist als politisch tätiger Liberaler nur Schipow bekannt, und zwar als Führer des rechten, gemäßigsten Flügels. Die neue Garnitur wird selbstverständlich ebenso von der Bevölkerung mit absoluter Wurstigkeit aufgenommen wie die früheren pseudo-liberalen Kombinationen.

Eine andere Depeschennachricht meldet dagegen, daß sogar Schipow abgelehnt hat, an der blutigen Farce teilzunehmen.

Petersburg, 10. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Der Semstwo-Abgeordnete[1] Schipow, der den Antrag erhalten hatte, in das Kabinett Witte[2] als Generalkontrolleur einzutreten, hat diesen Antrag abgelehnt und dies, wie folgt, begründet: Im gegenwärtigen Zeitpunkt hätte der Eintritt von Vertretern verschiedener sozialer Gruppen in das Kabinett nur in dem Falle eine große Bedeutung haben können, wenn diese Vertreter sich untereinander über das Programm verständigt hätten. Wenn man aber nur einen einzigen von ihnen nimmt, der noch dazu zur Rechten gehört, so ist es unmöglich, daß dieser Vertreter für das Kabinett irgendwie von Nutzen sein kann, um so mehr, als die Reichskontrolle eine mir gänzlich fremde Sache ist.

Struve und Witte

Eine hiesige Korrespondenz meldet aus Petersburg, daß Peter v. Struve, der Herausgeber der in Paris erscheinenden blassliberalen Zeitschrift „Oswoboshdenie“ [Befreiung], von Witte einen eigenhändigen Brief erhalten habe, in dem Struve aufgefordert wird, nach Petersburg zu kommen und dort seine „Oswoboshdenie“ herauszugeben.

Der Exmarxist Struve wird also demnächst seine Schwärmerei für eine „starke Regierung“ praktisch betätigen können.

Die sozialdemokratische Diktatur

Das „Kleine Journal“ bringt die folgende Korrespondenz aus dem von ca. 60000 Arbeitern bewohnten Dombrowaer Bezirk: Aus Sosnowice-Dombrowa. Im Sosnowicer-Dombrowaer Revier hat die Arbeiterherrschaft, d. h. der sozialdemokratischen Parteien, fortgesetzt die Oberhand. Gegen ihre Anordnungen wagt sich niemand aufzulehnen, auch nicht einmal die Behörden oder das Militär. Die neueste Errungenschaft der neuen Herrschaft ist die Bildung der Arbeiter-Polizei, die schon am Mittwoch in Sosnowice ihr Amt angetreten hat, während man in Bendzin und Dombrowa

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[1] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.