Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 572

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Poltawa, 25. Oktober. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Hier herrscht allgemeiner Ausstand. Auch der Unterricht in den Mittelschulen ist eingestellt. Die Zeitungen werden morgen nicht erscheinen.

Moskau, 25. Oktober. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Ein von der Vereinigung der Ingenieure abgehaltener Kongreß entschied, daß es die Pflicht aller Ingenieure sei, in allen Unternehmungen, Werken, Fabriken, Konstruktionsbüros usw. in den Ausstand zu treten. Dieser Ausstand wird heute seinen Anfang nehmen.

Moskau, 25. Oktober. Die Lage verschlimmert sich immer mehr. Die städtischen Angestellten und Arbeiter haben nochmals der Stadtverwaltung ein Ultimatum gestellt, worin sie mit dem Generalstreik drohen, falls ihre Forderungen nicht berücksichtigt würden. Die Situation wäre dann um so gefährlicher, als auch die städtischen Wasserwerke nicht im Betriebe erhalten werden könnten.

Jekaterinoslaw, 24. Oktober. Nachdem Kosaken eine Ansammlung von Schülern mit Nagaiken [Knüttel] zerstreut hatten, sammelte sich beim Stadthause eine tausendköpfige Menge an. Als Truppen erschienen, schritt die Menge zur Errichtung von Barrikaden. Die Truppen gaben eine Salve ab. Eine Anzahl Personen wurde getötet beziehungsweise verwundet. Gleichzeitig feuerten Truppen am anderen Ende der Stadt beim Puschkindenkmal auf ausständige Eisenbahnarbeiter und töteten drei von ihnen. Neun Eisenbahnarbeiter wurden verwundet.

Wie die letzte Meldung beweist, arbeitet auch diesmal wieder die zärtliche Regierung mit Peitsche, Pulver und Blei! Voraussichtlich wird dies Blutbad nicht das einzige bleiben. Herr Witte selbst, der Freiheitsbegeisterte, hat ja angedeutet, daß er für nichts garantieren könne!

Aber mit diesen geheiligten Mitteln alles Gottesgnadentums wird man gegenüber der Revolution nicht fertig werden. Das Volk ist durch die erhaltenen Bluttaufen zur Revolution erzogen worden. Die Arbeiter werden, selbst wenn diesmal wieder die Bewegung anscheinend erfolglos zusammenbrechen sollte, aber- und abermals den Ansturm erneuern. Ob aber der Absolutismus diese immer erneuten, immer gewaltigeren Katastrophen auf die Dauer aushalten kann, ist eine andere Frage. Zumal die freche Duma-Posse, die auch die minder bemittelten Schichten der Gebildeten, das Kleinbürgertum und die Bauern vor den Kopf gestoßen hat, diese Schichten gewaltsam an den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse kettet. Die breiten Schichten der Intelligenz nehmen denn auch an dem Kampfe tätigen Anteil. Und auch die schwer in Bewegung zu bringende Masse der Bauern scheint zum mindesten nicht gewillt zu sein, sich zum Prellbock gegen die industriellen Proletarier gebrauchen zu lassen. Die letzten Tagungen der Bezirkssemstwos[1] beweisen das.

Eine besonders radikale Resolution wurde im Semstwo Staritzk (Gouvernement Twer) gefaßt, die wörtlich folgendermaßen lautet:

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[1] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.