Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 565

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Tagen bis zu der Behauptung verstieg, die Sozialdemokraten in Russisch-Polen plünderten und zerstörten die Kirchen, nicht ohne Wirkung auf die politisch ganz unaufgeklärte, meist sehr fromme Arbeiterbevölkerung blieb, ist selbstverständlich.

An Agitationsarbeit haben es die wenigen tätigen Genossen polnischer und deutscher Zunge im Laufe des Wahlkampfes gewiß nicht fehlen lassen. Über 400000 Flugblätter sind verbreitet worden unter Umständen, von welchen man im übrigen Reiche kaum den rechten Begriff haben kann. Die Verbreitung mußte meist des Schichtwechsels in Gruben und Hütten wie des frühzeitig beginnenden Gottesdienstes wegen in den letzten Nacht- und frühesten Morgenstunden vorgenommen werden. Zu den Strapazen, die fortdauernd schlechtes Wetter und grundlose Wege in dem etwa 350 Quadratkilometer großen Wahlkreise verursachten, kamen die Beschimpfungen und selbst tätlichen Mißhandlungen, die sehr oft von Werksbeamten etc. gegen die Verbreiter verübt wurden. Auch die von den Pfaffen fanatisierten Weiber beschimpften in vielen Fällen die „verfluchte Demokracy“, griffen sie tätlich an, begossen sie mit Wasser usw. In wie viel tausend Fällen war die Arbeit der kleinen Schar ganz umsonst, weil die Weiber die verhaßten Schriften und Stimmzettel zerrissen oder verbrannten, ehe die Männer sie gelesen oder auch nur gesehen hatten.

Auch die opfervollste Agitation weniger Wochen konnte nicht jenen ungeheuren Wust von Unwissenheit und Vorurteilen beseitigen, wie er in den Köpfen der oberschlesischen Arbeiter in bezug auf die Sozialdemokratie herrscht. Dazu ist jahrelange systematische und grundsätzliche Arbeit erforderlich. Wie eine Oase in der Wüste des ganz allgemeinen Stimmenrückgangs ragte das Wahlresultat der Stadt Kattowitz und einiger benachbarter Industriedörfer hervor, indem wir dort nicht nur einen, wenn auch kleinen Fortschritt erzielten, sondern zugleich auch die Stimmenzahl der Polen, die sich überall verdoppelt hatte, auf dem Stand der letzten Wahl hielten. Ein unwiderleglicher, zahlenmäßiger Beweis für den Wert fortgesetzter, fleißiger Aufklärungsarbeit auch unter schwierigsten Verhältnissen. So nur kann auch die Scharte wieder ausgewetzt werden, welche die Kattowitzer Wahl der Sozialdemokratie geschlagen hat. Dazu ist allerdings besonders notwendig, daß die schwer getroffene polnisch-sozialdemokratische Sonderorganisation den Anschluß an die Gesamtorganisation herbeiführt und dadurch die Möglichkeit schafft, mit den Mitteln dieser jene eifrige, planvolle Agitation zu entfalten, welche allein zum Ziele führen kann. Hat doch der Wahlausfall hoffentlich auch unseren polnischen Genossen bewiesen, daß allein mit der ängstlich gewahrten „Selbständigkeit“, richtiger Isolierung der „PPS“ – gewahrt in Rücksicht auf das, was der polnische Gegner sagen könnte – das erstrebte Ziel nicht zu erreichen ist. Wenn die empfindliche Niederlage diese Erkenntnis herbeigeführt hat, wird die Sozialdemokratie aus dieser Schlappe reichen Gewinn ziehen.

Solchen Gewinn kann das Zentrum aus seiner noch viel schlimmeren Niederlage gewiß nicht ziehen. Das Zentrum, mehr als zwei Jahrzehnte lang im unbestrittenen

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