Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 530

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tifizieren und sich über die Einzelheiten des künftigen Zusammenwirkens schiedlich-friedlich verständigen.

Die Grundverschiedenheit der beiden Situationen, die sich so scharf im entgegen gesetzten Verlaufe der beiden Einigungskongresse widerspiegelt, läßt sich kurz wie folgt zusammenfassen. 1899 stand der französische Sozialismus erst im Beginn der ministerialistischen Methode. Unter den gegebenen Umständen, die hier nicht des näheren erörtert werden können, konnte jene Methode durch keinen Kongreßbeschluß in ihrem Drange nach praktischer Selbstbejahung aufgehalten werden. Man hat ja gesehen: Nicht nur der französische Kongreßbeschluß von 1899, auch die ihm verwandte Resolution Kautsky (Internationaler Pariser Kongreß 1900)[1] war nicht imstande, die praktische Fortführung des Ministerialismus bzw. der Bloc-Taktik einzudämmen. Wenn die Amsterdamer-Dresdener Resolution[2] glücklicher war, so deshalb, weil sie zur rechten Zeit kam, nachdem sich die antiproletarische Methode ausgetobt und ausgelebt hatte, nachdem sie an ihren abschreckenden Früchten von den proletarischen Elementen aller Richtungen und Organisationen als ein Giftbaum erkannt worden war. Der Einigungsparteitag von 1905 steht nun am Schlusse der ministerialistischen Methode. Ihm blieb es nur noch übrig, ihrem Leichnam den Totenschein auszustellen, genauer – den ihr von der Einigungskommission ausgestellten Totenschein zu Protokoll zu nehmen.

Deshalb wäre nichts oberflächlicher, als von den schlimmen Folgen der Einigung des Jahres 1899 auf die Folgen der Einigung von 1905 schließen zu wollen. Von nun an gibt es in Frankreich nur einen Sozialismus, nur eine sozialistische Partei. Diese hier so neue, schier fremdartig anmutende Tatsache wird sich schon bald genug in das Bewußtsein und das Gewissen aller sozialistischen Arbeiter hineinbohren, da sie ja dem tiefen und stetigen Drang des proletarischen Instinkts nach Klasseneinheit entspricht.

Das Einigungswerk von 1905 ist das notwendige Ergebnis langjähriger, allseitiger Spaltungskrisen.[3] Man kann sagen, daß in der langen Spaltungsperiode alle über Einheit und Spaltung einer sozialistischen Partei entscheidenden Gegensätze bereits ausgefochten worden sind. Die praktische Überwindung des Ministerialismus hat sich in der fortgesetzten Stärkung des linken Flügels der PSF selbst geäußert, der schließlich die Mehrheit des Nationalrates dieser Partei gewann. Dieser Umstand war der wichtigste Faktor der Einigung und ist die sicherste Bürgschaft für ihre Dauerhaftigkeit.

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[1] Der Kautsky-Resolution des Internationalen Sozialistenkongresses von Paris 1900 zufolge war die Beteiligung an einer bürgerlichen Regierung von Fall zu Fall zu entscheiden.

[2] Der Internationale Sozialistenkongreß von Amsterdam 1904 hatte auf Empfehlung August Bebels die Resolution des Dresdener Parteitages der deutschen Sozialdemokratie von 1903 angenommen. In ihr wurden die revisionistischen Bestrebungen, die auf dem Klassenkampf beruhende Taktik der Partei in eine Politik der Zugeständnisse an die bestehende Ordnung aufzulösen, entschieden verurteilt.

[3] Die französische sozialistische Bewegung wies in den 90er Jahren des 19. Jh. eine kollektivistische, marxistische (Guesdisten), eine possibilistische, kleinbürgerlich-reformistische (Broussisten), eine blanquistische, sektiererische (Blanquisten), eine anarcho-syndikalistische (Allemanisten) und eine „unabhängige“ sozialreformerische (Jaurèsisten) Strömung auf.