Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 511

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was ihn retten könnte. Das, was ihm die Barbaren geben, dient weniger dazu, sein Leben zu verlängern, als seinen Tod hinauszuschieben.

Die Unabhängigkeit des Taglöhners ist eine der verderblichsten Geißeln, die das Raffinement der modernen Menschen hervorgebracht hat. Sie vermehrt den Überfluß des Reichen und den Mangel des Armen. Jener erspart alles, was dieser ausgibt. Dieser ist gezwungen, nicht an Überflüssigem, sondern am Notwendigsten zu sparen.“[1]

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Linguet, der in so bitteren und bewegten Worten das System der Lohnarbeit kennzeichnet und die kapitalistische Ausbeutung geißelt, war wohlgemerkt nicht etwa ein Sozialist oder Kommunist, wie es deren mehrere von utopistischer Färbung im XVIII. und auch in früheren Jahrhunderten gab. Er stellt dem Kapitalismus nicht eine fortschrittlichere, sondern eine zurückgebliebenere gesellschaftliche Form, nicht den Sozialismus, sondern die Sklaverei entgegen. Dadurch bekommt seine Kritik der kapitalistischen Gesellschaft äußerlich einen reaktionären Schein: Sie läuft auf eine Verherrlichung der längst überwundenen patriarchalischen Sklavenwirtschaft und, da die Rückkehr zu diesen Gesellschaftsformen offenbar ganz ausgeschlossen ist, auf einen tiefen sozialen Pessimismus hinaus.

Aber gerade darin liegt der große und auch revolutionäre Zug der Theorie Linguets. Er, wie auch die Klassiker der bürgerlichen Nationalökonomie, war vollkommen in den Schranken der bürgerlichen Gesellschaft befangen. Sie war ihm „die Gesellschaft“, die einzig mögliche und denkbare Form des sozialen Lebens. In jener Epoche, bevor noch die weiterführende, revolutionäre Seite des Kapitalismus in dem Aufkommen des modernen Proletariats und seines Klassenkampfes offenbart wurde, vermochte auch die Theorie keinen geschichtlichen Ausweg aus der bürgerlichen Gesellschaft herauszufinden, sie mußte sie also naturgemäß als der historischen Entwicklung letztes Ziel betrachten. Dies machte jedoch die theoretischen Vorläufer der bürgerlichen Herrschaft nicht etwa blind für die furchtbaren sozialen Schäden, für die schreienden Widersprüche des Kapitalismus. Sie zauderten vielmehr nicht, da sie keinen Ausweg aus dieser Hölle sahen, freimütig die menschliche Gesellschaft überhaupt für ein systematisches Verbrechen an der Menschheit zu erklären. Und wenn Linguet bitter ausruft: „Die dauernde Sklaverei das ist das unzerstörbare Fundament der Gesellschaften“, so liegt darin für sein Teil eine ebenso kühne Tat, wie in dem Ausruf des jungen Engels um beinahe ein Jahrhundert später in seiner „Lage der arbeitenden Klassen in England“: Ich klage die bürgerliche Gesellschaft des Mordes an![2]

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[1] Ebenda, S. 81–84. In: MEW, Bd. 26, Erster Teil, S. 323–325.

[2] Bei Friedrich Engels heißt es: „So weit ist es in England gekommen – und die Bourgeoisie liest das alles täglich in den Zeitungen und kümmert sich nicht drum. Sie wird sich aber auch nicht beklagen können, wenn ich sie nach den angeführten offiziellen und nichtoffiziellen Zeugnissen, die sie kennen muß, geradezu des sozialen Mordes beschuldige.“ Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Resultate, Leipzig 1845. In: MEW, Bd. 2, S. 338.