Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 487

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II Rede in einer Volksversammlung am 6. Juni 1903 in Glauchau

Nach einem Polizeibericht

Als Referentin war Frau Dr. Luxemburg erschienen. Dieselbe sprach in eineinhalbstündiger Rede zum Punkt I der Tagesordnung „Die Reichstagswahl“ und bemerkte am Eingange ihres Referates, daß es im Lande hieße, daß die Sozialdemokraten Aufreizerer seien u. wo die Sozialdemokratie auftrete, sich auch die Unzufriedenheit einschleiche. Die Unzufriedenheit werde aber nur durch solche Vorkommnisse, wie sie im letzten Reichstage durch die Annahme des Zolltarifs geschehen seien,[1] hervorgerufen.

Die Referentin behandelte in ihrem Referate hauptsächlich den neuen Zolltarif, die Handelsverträge sowie die Reichsfinanzreform.

Referentin bemerkte in ihrem Referate, daß durch die umsichtige Leitung Kaiser Wilhelms II., welcher die Vermehrung und den Nutzen des Heeres und der Marine erkannt hat, Gott sei Dank die Reichsschulden von 700 auf 2000 Millionen gestiegen seien. Sie sprach diese Worte in ironischer Weise, weshalb Herr Dr. Rüdiger [überwachender Stadtrat] den Vorsitzenden aufforderte, der Referentin aufzugeben, den Kaiser nicht in die Debatte zu ziehen.

[In der Diskussion bemerkte Krügel, Meerane, Anhänger der Gegenpartei – Reformer], daß der Zolltarif ein Bedürfnis und kein politischer, sondern ein rein wirtschaftlicher Tarif sei.

Weiter bemerkte Krügel, daß der Mittelstand von den Sozialdemokraten nicht gehoben werde. Redner wurde wiederholt durch stürmische Zwischenrufe von den Versammlungsbesuchern unterbrochen.

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[1] Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die Erhöhung der Getreide- und Fleischzölle eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes und eines neuen Zolltarifs bekannt geworden waren. Danach sollten enorme Erhöhungen der Agrar- und einiger Industriezölle erfolgen, die für die Mehrheit der Bevölkerung auf eine wesentliche Verschlechterung der Lebenslage hinausliefen. – Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. 3,5 Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der Vorlage des Bundesrates zur Erhöhung der Getreidezölle begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion kämpfte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 mal das Wort. Zollgesetz und Zolltarif wurden am 14. Dezember 1902 mit 202 gegen 100 Stimmen gebilligt und traten ab 1. März 1906 in Kraft.