II Sozialistischer und bürgerlicher Antiklerikalismus
Die Sozialisten sehen sich gezwungen, die Kirche, die eine antirepublikanische und reaktionäre Macht ist, zu bekämpfen, allerdings nicht um sich am bürgerlichen Antiklerikalismus zu beteiligen, sondern um sich von ihm zu befreien. Für die französischen bürgerlichen Republikaner ist der seit Dutzenden von Jahren stetig geführte Kleinkrieg gegen das Pfaffentum eines der wirksamsten Mittel, um die Arbeiterklasse von der sozialen Frage abzulenken und den Klassenkampf zu schwächen. Außerdem ist der radikalen Partei der Antiklerikalismus als der letzte Grund für eine Existenzberechtigung verblieben; die Entwicklung der letzten dreißig Jahre, der Aufschwung des Sozialismus, haben dazu geführt, daß das gesamte frühere Programm der Radikalen sinnlos geworden ist.
Für die bürgerlichen Parteien ist der Kampf gegen den Klerus kein Mittel zum Zweck; statt dessen wird mit ihm ein Selbstzweck verfolgt. Die bürgerlichen Parteien führen diesen Kampf, nicht um ein Ziel zu erreichen; sie versuchen, ihn in eine Dauerinstitution zu verwandeln, d. h. ewig dauern zu lassen. Deshalb können sich die Sozialisten nicht darauf beschränken, den bürgerlichen Gegnern des Klerikalismus zu folgen, denn diese sind zugleich ihre eigenen Gegner. Wenn die Sozialisten die Kirche bekämpfen, tun sie das nicht zuletzt, um deren bürgerliche Gegner zu entlarven.
Was das antiklerikale Handeln des Sozialismus von jenem des Bürgertums unterscheidet, sind nicht nur die Breite und die Entschiedenheit des Programms, sondern auch der entgegengesetzte Denkansatz. Die absichtsvoll sinnlose und hoffnungslose Kampagne, die die bürgerlichen Republikaner seit dreißig Jahren gegen die Kirche führen, hat einen besonderen Charakter. Die Republikaner beharren darauf, ein Problem in zwei zu teilen, das politisch eins und unteilbar ist: Sie trennen die Weltgeistlichkeit von der Ordensgeistlichkeit[1] und führen machtlose Schläge gegen die Kongregationen, die kaum zu treffen sind, obwohl der Kern der Frage in der Union von Kirche und Staat liegt. Anstatt diese Bindungen ein für allemal durch die Abschaffung des Kirchenetats und der gesamten vom Klerus ausgeübten Verwaltungsfunktionen zu lösen, statt die Existenz der religiösen Orden in ihrem Kern zu erschüttern, jagt man ewig die nicht gestatteten Kongregationen. Anstatt die Kirche und den Staat zu trennen, versucht man im Gegenteil, die Orden an den Staat zu binden. Während
[1] Karl Kautsky erklärte dazu: „Die Insassen der Klöster bildeten die Ordensgeistlichkeit, die Vorsteher der Gemeinden und Verwalter des Kirchenguts bildeten die Weltgeistlichkeit. Mit dem Wachstum der Kirche entwickelte sich die erste wie die zweite Kategorie zu einem ungeheuren Organismus; beider gemeinsamer Kopf war der Papst.“ Die Sozialdemokratie und die katholische Kirche, II. Bourgeoisie und Kirche. In: Le Mouvement Socialiste, Nr. 109 vom 1. Dezember 1902, S. 2141. sieh auch: Karl Kautsky: Die Sozialdemokratie und die katholische Kirche, Berlin 1902, S. 12.