Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 416

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Auf 100 Millionen wurde von dem „genialsten Staatsmann des Jahrhunderts“ die Lebenskraft des polnischen Volkes in Preußen taxiert. Um diesen Preis versprach er „die gefährlichen Menschen“ aus den östlichen Provinzen herauszukriegen und der Hydra des polnischen Nationalismus ihre sämtlichen Köpfe abzuhauen. Aber o Wunder, es vergingen zwölf Jahre, und da war die „großpolnische Gefahr“ an der Ostgrenze nicht nur nicht verschwunden, sondern es erwiesen sich neue 100 Millionen notwendig, um den Kampf mit der Hydra erst mit frischer Kraft aufzunehmen. Der Erneuerer des Flottwellschen Systems war inzwischen selbst auf sein Altenteil gesetzt worden, er war gegangen, aber die „polnische Gefahr“ war geblieben. Und nun meldete sich die preußische Regierung wieder als würdiger Erbe des „genialsten Staatsmanns“. Nur noch einmal 100 Millionen rief sie 1898, und wir haben das Ungeheuer gestreckt!

Es wurden die neuen 100 Millionen bewilligt, der deutsche Philister saß schon da mit hohen Augenbrauen und wollte gerne staunen. Aber das weltgeschichtliche Schauspiel ließ wieder auf sich warten. Der Vorhang blieb hartnäckig heruntergelassen. Und jetzt erscheint der Regisseur vor der Rampe, um sich mit verlegenem Lächeln und einem schiefen Bückling vor dem verehrten Publikum zu entschuldigen, daß die Vorstellung leider immer noch nicht stattfinden könne, aber, falls man der Direktion neue – 250 Millionen gütigst pumpen wolle, mit aller Sicherheit demnächst in Glanz und Prunk zum Staunen der Welt gezeigt werde.

Nach den Ferien wird also dem preußischen Landtag die dritte der Reihe nach antipolnische Vorlage präsentiert werden.[1] In ihrer Aufeinanderfolge erinnern die polnischen Ansiedelungsvorlagen stark an die neueste Geschichte der Flottengesetze. Im Jahre 1886 – 100 Millionen, nach zwölf Jahren neue 100 Millionen, und nun – kaum nach vier Jahren – neue 250 Millionen! Das Tempo immer rascher – die Forderungen immer sprunghafter in ihrem Wachstum. Und bei jeder neuen Forderung die unvermeidlichen Versicherungen, diesmal sei es bei Gott und allen Heiligen der letzte Pump, diesmal seien die Mittel zur Lösung der großen Aufgabe endlich genügend. Die Ähnlichkeit mit den „großen Zügen“ unserer Marinepolitik ist in der Tat eine unheimliche. Liegt vielleicht auch unsere offizielle Polenpolitik auf dem Wasser?

Sehen wir zu.

Worin besteht vor allem der beabsichtigte Zweck der seit Jahrzehnten geführten Ansiedelungspolitik? Der Zweck war, wie ihn Bismarck in der großen Polenrede am 28. Januar 1886 formulierte: „die Verhältniszahl zwischen der polnischen und deutschen Bevölkerung möglichst zu bessern zum Vorteil der Deutschen, [wie der Ge

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[1] Am 27. Mai 1902 hatte der preußische Ministerpräsident, Graf von Bülow, das Gesetz zur Beförderung der deutschen Ansiedlung und zur Stärkung des Deutschtums in den Provinzen Westpreußen und Posen in das preußische Abgeordnetenhaus eingebracht. Die konservative Mehrheit verabschiedete die Vorlage am 5. Juni 1902. Die Ansiedlungskommission wurde mit einem Etat um weitere 150 Millionen Mark auf insgesamt 350 Millionen Mark ausgestattet.