Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 414

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sein scharfes Auge auf die zollpolitische Situation richtet. Ob er aber mit seinen Ausführungen der Zollopposition einen Dienst leistet, ist eine andere Frage. Er richtet den Blick bereits in jene Fernen, da Handelsverträge Beratungsgegenstand des Reichstags sein werden, erörtert die Absichten der Regierung bezüglich dieser problematischen Handelsverträge, macht aber bereits gruselig vor diesen Absichten und ruft: „Darum Augen auf, so lange noch nicht aller Tage Abend ist!“

Ei, danach muß es ja scheinen, als ob der Zollopposition bereits eine Gefahr auf den Nägeln brennte und sie nichts davon merkte! Augen auf – Schlafmützen, damit ihr nicht von der Regierung und den Agrariern überrumpelt werdet! Die Gefahr des „alten autonomen Zolltarifs mit den 5 M-Zöllen“ droht! Mit Verlaub, wir werden nicht in den Fehler verfallen, eine Erörterung dieser Gefahr zu unternehmen; aber wir geben zu bedenken, obwohl die Regierung den vorliegenden Zolltarifentwurf eingebracht hätte, wenn nicht in der Vergewisserung, daß sie die darin enthaltenen hohen Zollsätze von 6 resp. 6,50 M für Getreide aufstellen durfte, ohne bei einigen auswärtigen Regierungen den allerärgsten Anstoß zu erregen.

Was ist denn nun gefährlicher, dieser neue Tarif oder der „alte autonome“? Und wenn jetzt die Taktik der Opposition darauf gerichtet ist, zunächst die drohende größere Gefahr abzuwenden und diese Taktik sich bis jetzt bewährt hat, ist es da nötig, sie jetzt um der ferner liegenden kleineren Gefahr willen zu revidieren? Jedenfalls wird die Opposition auch die ferner liegende Gefahr nicht aus den Augen lassen; aber um dieses kleineren Übels willen jetzt flau machen und die Opposition auf sie ablenken zu wollen, das hieße die Kraft der Opposition zersplittern. Zur rechten Zeit wird sie nach Abmessung der Erfolge ihres Kampfes gegen den Entwurf erwägen, welche Mittel zur Weiterführung des Kampfes nötig sind, aber jetzt muß ihr Ziel darauf gerichtet sein: Nieder mit dem Entwurf!

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 112 vom 20. Mai 1902.

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