Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 341

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zur Klärung der offenbar auch schon im 3. Berliner Wahlkreis glücklich in die Halme schießenden Konfusion beisteuern.

1. Es ist Tatsache, daß die „Neue Zeit“ „einseitig“ ist – nämlich in demselben Sinne und Maße wie die Partei, deren geistige Leiterin sie zu sein berufen ist. Als theoretisches Organ der Sozialdemokratie hat sie allerdings der Verbreitung der Lehren des wissenschaftlichen Sozialismus zu dienen und nicht etwa der Verbreitung der „vielseitigen“ Konfusion verbummelter Studenten, sozialreformerischer Professoren, berufsmäßiger Sozialistentöter, nationalsozialer Wasserpatrioten und anderer obdachloser Politiker, die in Flottenenthusiasmus, Konsumvereinen und Marx-Revisionen machen.

2. Diese Tatsache schließt durchaus nicht aus, daß die „Neue Zeit“ auch anderen wie ihre[n] eigene[n] Auffassungen in ihren Spalten den freiesten Raum gewährt. Beweis: Die jahrelange Mitarbeiterschaft Bernsteins, nachdem er bereits den seinen offenen Bruch mit den Grundsätzen der Sozialdemokratie vollzogen hatte. Wenn Bernstein im schließlich aus dem Verbande der „Neuen Zeit“ austrat, so geschah dies nicht infolge gegen ihn gerichteter Angriffe, wie Heine unwahr behauptet berichtet, sondern umgekehrt nach einer Reihe von Bernstein gegen Kautsky in der „Neuen Zeit“ gerichteter u. von diesem unbeantwortet gebliebener Anzapfungen (S. N 31 u. 32 v. 28. April u. 5. Mai 1900).[1] Beweis ferner: Der erst neulich in der „Neuen Zeit“ erschienene Artikel Eisners, der in der Frage der sozialistischen Ministerschaft eine der Ansicht der „Neuen Zeit“ strikte entgegengesetzte Auffassung vertritt.[2] Beweis weiter: Daß auch Schippel, dessen Milizartikel Heines treuer Wähler so schmerzlich vermißt,[3] nicht etwa zur von der „Neuen Zeit“ zur Niederlegung seiner streitbaren Feder veranlaßt worden ist, sondern vielmehr nach dem Hannoverschen Parteitag ganz von selbst, als wie die Nachtigall im Herbst, verstummte, um wärmere Himmel für den Flügelschlag seiner freien Seele zu suchen. Heine[4] sollte sich endlich erinnern, daß sogar er selbst, der warme strebsame Anwalt der politischen Vielseitigkeit, bis jetzt unter den Mitarbeitern der „Neuen Zeit“ zählt u. bis jetzt, soviel uns bekannt, kein abgewiesenes Geistesprodukt zu beweinen hat. Mein Liebchen, was willst Du noch mehr?

3. Daß die „Neue Zeit“ freilich es nicht darauf verzichten kann, bei aller Gastfreundschaft eine bestimmte Richtung, nämlich diejenige der Marx-Engelsschen Lehren u. des Erfurter Programms als die in der Partei herrschende zu verfechten, statt

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[1] Siehe Eduard Bernstein: Meine Stellungnahme zur Resolution Bebels. Eine Abwehr wider K. Kautsky. In: Die Neue Zeit, XVIII. Jg., 1899/1900, Zweiter Band, S. 99 ff. – Erklärung Eduard Bernsteins vom 30. April 1900, daß er die Mitarbeit an der Neuen Zeit niederlegt. Ebenda, S. 160.

[2] Siehe K. Eisner: Parlamentarismus und Ministerialismus. In: Die Neue Zeit, XIX. Jg.,1900/1901, Zweiter Band, S. 484 ff.

[3] Unter dem Pseudonym Isegrimm hatte Max Schippel im November 1898 in den Sozialistischen Monatsheften dafür plädiert, die sozialdemokratische Forderung, das System der stehenden Heere durch das der Miliz abzulösen, als unnötig fallen zu lassen.

[4] Gemeint ist die „Kompensationspolitik“ von Wolfgang Heine, der in einer Rede am 10. Februar 1898 im 3. Berliner Reichstagswahlkreis die Auffassung vertreten hatte, die Sozialdemokratie könne der Regierung Militärforderungen bewilligen, wenn dafür „Volksfreiheiten“ gewährt würden. Ein solcher Kompromiß lief auf eine Revision des antimilitaristischen Kampfes der deutschen Sozialdemokratie hinaus.