Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 279

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Bewußtsein zu verbreiten, als während langer Jahre durch die abstrakte Propaganda unserer Prinzipien hätte entwickelt werden können.

Deshalb hat die Bewegung in ihrem unwiderstehlichen Lauf die Sozialisten mehrerer Organisationen mit sich fortgerissen. Und wenn die Dreyfus-Bewegung in den sozialistischen Reihen eine starke Abneigung hervorgerufen hat, dann resultiert das unserer Meinung nach aus dem wahren, wenn auch instinktiven Gefühl, daß jede große spontane Klassenbewegung des französischen Proletariats nicht an den Grenzen der verschiedenen Organisationen Halt macht und droht, dieselben hinwegzufegen. Aber genau aus diesem Grund hat sich die Vereinigung der zersplitterten Kräfte des französischen Sozialismus als die Vorbedingung jeder breiten und energischen Aktion erwiesen. Und wir selbst sehen in der Vereinigung der verschiedenen sozialistischen Organisationen im freien Spiel des politischen Tageskampfes nicht die geringste Gefahr für die Lehre von Marx und die Prinzipien der Sozialdemokratie, da dieselben in Frankreich schon verwurzelt sind. Für die Sozialdemokratie gibt es keine bessere Schule als den großen und lebendigen, von abstrakten Klischees befreiten Klassenkampf. Die materialistische Geschichtsauffassung gestattet es uns hier nicht mehr, an die Entwicklung einer lebendigen Volksbewegung durch abstrakte Formeln zu glauben; im Gegenteil, nur auf der materiellen Basis eines großen und starken Klassenkampfes, der das ganze Proletariat umfaßt, wird sich eine klare theoretisch-prinzipielle Konzeption erheben.

Die Antwort auf die zweite Frage nach der Beurteilung der Teilnahme von Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung hängt davon ab, wie man diese Teilnahme versteht: ob als eine normale Form des sozialistischen Kampfes wie die Tätigkeit in den Parlamenten, ob als eine ausnahmsweise Maßnahme in einem Ausnahmemoment des Staatslebens. Es scheint uns, daß sich Bürger Jaurès in seinem Artikel „Organisieren wir uns“ – „Petite République“ vom 17. Juli – von letzterem Gesichtspunkt leiten läßt. Er stellt klar und bestimmt die Frage: „Kann ein Sozialist in einer Zeit der Krise und für eine bestimmte Frist dem Aufruf der bürgerlichen Parteien folgen und sich mit ihnen zur Regierungsbildung verbinden?“ Er sagt weiter, sich auf einen von uns verfaßten Artikel in der „Leipziger Volkszeitung“ vom 6. Juli[1]beziehend, in dem wir den Eintritt eines Sozialisten in die Regierung auch als zulässig anerkennen, aber nur in einem absoluten Ausnahmefall, und bezweifeln, daß ein solcher Moment in Frankreich vorlag: „Das ist eine Frage der Taktik“ (und nicht des Prinzips). Wenn man die Frage auf diese Art stellt, wenn man nur eine bestimmte Tat im Auge hat, dann wäre es wahrhaft engstirniger Doktrinarismus, den Erfordernissen der Zeit und der Kompliziertheit der Situation ein kategorisches „Nein“ entgegenzusetzen.

Also läßt sich im Falle Millerand die Frage darauf zurückführen zu prüfen, ob die gegebene Situation in Frankreich den Eintritt eines Sozialisten in das Ministerium

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Eine taktische Frage. In: GW, Bd. 1, 1. Halbbd., S. 483 ff.