Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 259

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den-Vorbehalten etwas resolvieren könnte, ist ja wieder der willkommene Anlaß für sämtliche Kriegsminister sämtlicher beteiligten Staaten, mit neuen volksbelastenden Forderungen hervorzutreten. Oder hat nicht Herr von Stumm jüngst bei der Beratung der Militärvorlage darauf hingewiesen, daß Deutschland sich beeilen müsse, einen möglichst hohen Stand seiner Heeresverfassung möglichst rasch zu erreichen, um bei einem späteren fabelhaften Abkommen über ein Rüstungsmaximum sich rechtzeitig zu decken und sein Schäfchen vorher aufs Trockene zu bringen?[1]

Wenn wir keinen Zweifel daran haben, daß die feierliche erste Kundgebung Nikolaus II. ein nicht ungeschickter Kniff der russischen Diplomatie gewesen ist, um Rußland vor allzu frühem Losschlagen zu bewahren und dem Zarismus den nötigen Ellbogenraum zu sichern, ungestört durch Krieg und Kriegsgeschrei in Europa, finanz-, verkehrs- und militärpolitisch seine weitsichtigen Weltmachtspläne vorzubereiten, so erweckt das neue Zirkular beinahe den Eindruck, als ob die internationale Diplomatie es sich bei „Väterchen“ bestellt hätte. Es erscheint als ein schauspielerischer Trick, um den Vielzuvielen, die sich durch schwungvolle Verheißungen und pomphafte Erklärungen der Herrschenden zu leicht nur noch bestechen lassen, Sand in die Augen zu streuen und gemächlich weiter im Trüben zu fischen.

Heute, im Zeitalter der politischen Ausstattungsstücke, wo die prunkende Schaustellung Trumpf ist, verstehen sich solche illuminierte Kundgebungen. Das Wort Bonapartes: Kratze den Russen und du wirst den Tataren sehen, gilt für die ganze pharisäische Heuchelei dieser internationalen Friedensbeteuerung. Die Herrschenden, die sich in den Philosophenmantel der Menschenliebe und Völkerverbrüderung hüllen, tragen unter dem täuschenden Kostüm den stählernen Panzer, und unter den Rosen der Friedenskonferenz lauert das blitzende Schwert.

Auf dieser Höhe der Entwicklung, wo der Großkapitalismus und der Militarismus innig verschwistert einander bedingen, sind bürgerliche Republik, konstitutionelle und absolute Monarchie nur die nichtssagenden Firmenschilder für die Organisation des Industrie-, des Handels- und des Agrarkapitals. Und das ist nicht bloß gezwungen, die entfesselten Produktivkräfte der bürgerlichen Wirtschaftsweise, sondern auch das unwiderstehlich aufstrebende, klassenbewußte Proletariat zu bändigen. So erscheint diese Friedenskomödie als ein notwendiges Ergebnis der vorgeschrittenen politischen Bühnentechnik.

Gegen den furchtbaren und immer sich steigernden Druck der Heereslasten, die das werktätige Volk, als Wehr- und Steuerpflichtige, bis ins Mark hinein versehrt, die hohle Deklamation der Abrüstungsbeteuerungen! Gegen die sich häufenden und zuspitzenden internationalen Gefahren und Verwickelungen, die aus dem Imperialismus, der Welt- und Ausdehnungspolitik geboren werden und die Kulturwelt mit dem

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[1] Sinngemäße Wiedergabe der Rede des konservativen Abgeordneten Carl Freiherr von Stumm-Halberg, siehe ebenda, S. 199 ff.