Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 144

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worden sein! Leider ist die Bewegung der Eisenbahner etwas mit der utopistischen Frage des Generalstreiks verquickt. Guérard, der Vorsitzende der Eisenbahner-Gewerkschaft, ein trefflicher Organisator und ein ebenso ruhiger als energischer Mann, ist ein eifriger Allemanist.[1] Sein Einfluß hat die Gewerkschaft durchaus ins Fahrwasser der allemanistischen Bewegung geleitet. Eines der wesentlichsten Punkte, wodurch die Allemanisten sich von den übrigen sozialistischen Fraktionen unterscheiden, ist nun, daß sie nicht in der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat das Mittel zu dessen Befreiung erblicken, vielmehr in dem „Generalstreik“. Den Allemanisten war es zu verdanken, daß internationale Sozialistenkongresse sich wiederholt mit dem Generalunsinn des Generalstreikes beschäftigen mußten, der hier u. a. auch von Guérard energisch befürwortet wurde. Der Aberglaube von der Macht des Generalstreiks spukt nun auch in der eingeleiteten Bewegung. Allen Gewerkschaften sind Fragebogen zugegangen, welche eine Erklärung betreffs der folgenden zwei Punkte einholen. 1. Sind die Mitglieder der Gewerkschaft bereit, aus Solidaritätsgefühl ohne Protest die weitgehenden Schwierigkeiten zu ertragen, welche aus dem Streike der Eisenbahner sich erheben können? 2. Würden sie sich gegebenenfalls mit der Bewegung dadurch solidarisieren, daß sie selbst die Arbeit einstellen, um dem Unternehmertum die geforderten Reformen zu entreißen? Die Antworten der Gewerkschaften liegen noch nicht vor. Mit Recht wünscht Jules Guesde, sie möchten negativ ausfallen, denn in dem vorliegenden Falle werde der Erfolg des eventuellen Kampfes dadurch gesichert, daß die Zahl der zu Unterstützenden möglichst klein sei und daß die breite proletarische Masse die Kämpfenden genügend lange mit Munition versorgen könne. Es ist ganz ausgeschlossen, daß im Falle eines Kampfes die Organisation die ausständigen Eisenbahner längere Zeit aus eigener Kraft unterstützt. Zwar zählte die Gewerkschaft 1895 bereits 68352 eingeschriebene Mitglieder und für 1897 wurde deren Zahl auf fast 100000 geschätzt. Doch zahlen die wenigsten davon ihre Beiträge. Guérard selbst mußte im vorigen Jahre auf dem Gewerkschaftskongreß zu Tours erklären, daß nur etwa 15000 Mitglieder regelmäßig ihren Verpflichtungen gegen[über der] Organisation nachkommen. Und wie die Aussichten betreffs des Generalstreiks liegen, dafür einige ziffernmäßige Beweise. Auf den Gewerkschaftskongressen von Marseille (1892), Paris (1893) und Nantes (1894), auf denen die Allemanisten überwogen, wurde feierlich die Organisation des Generalstreiks beschlossen. Einem Zentralausschuß sollte zu dem Zwecke zehn Prozent aller für partielle Streiks eingehenden Gelder verbleiben. Nach Ablauf eines Jahres verfügten die Gewerkschaften über ganze 329 Francs 75 ct. Von 1895 bis 1897 waren 401 Francs 75 ct in die Generalstreikkasse geflossen. Das ist nicht viel, „um eine Welt umzustürzen“, wie die Allemanisten vom Generalstreik hoffen. Auf dem letzten Gewerkschaftskongreß zu Tours (September 1897) wurde denn auch mit allen gegen vier Stimmen beschlossen, an Stelle der „Organisation des Generalstreiks“ die „Propaganda für die

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[1] Sie waren Anhänger von Jean Allemane, französischer Sozialist, Kommunarde, Journalist, vertrat anarcho-syndikalistische Auffassungen; gründete 1890 die Revolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei.