Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 141

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Eisenbahner ist lächerlich gering und muß durch die „Wohltaten“ des Spittels oder Armenhauses ergänzt werden. Die Löhne und Gehälter sinken, die Dauer der Arbeitszeit nimmt dagegen zu, teils weil nicht genügend Personal eingestellt wird, teils weil die zahlreichen Zwischenunternehmer fette Profite einsäckeln wollen. Die übermäßige Dauer der Arbeitszeit – 16 und 18 Stunden täglich und 18 bis 24 Stunden vor dem Schichtwechsel zwischen Tages- und Nachtdienst – ist die wesentlichste Ursache der zahlreichen Unfälle auf den französischen Eisenbahnen. Die Eisenbahner haben keinen Ruhetag pro Woche. Die Aufenthalts-, Schlaf- und Arbeitsräume des Personals sind meist ungesund, vielfach ekelhaft schmutzig, wahre Löcher. Die Schrankenwärter werden mehr und mehr durch Frauen ersetzt, welche gegen freie Wohnung (zwei Zimmerchen meist) und ein Monatsgehalt von acht Francs Tag und Nacht den Dienst versehen. Meist werden Frauen von Eisenbahnarbeitern oder Hilfsbeamten als Schrankenwärterinnen angestellt. Der Nebenerwerb der Frau ist sehr oft nötig, da der Arbeiter in der Regel nicht mehr als zwei Francs 50 ct bis drei Francs 25 ct pro Tag verdient, der Hilfsbeamte aber als Diätar im Tag drei Francs, als fest Angestellter ein Monatsgehalt von 80 Francs erhält. Der Anfangsverdienst des Zugpersonals von zwei Francs 50 ct täglich steigert sich nach drei Monaten auf drei Francs, mit der festen Anstellung ist ein Jahresgehalt der einschlägigen Arbeitskräfte von 1300 Francs verbunden; ihre Alterspension beträgt 350 bis 380 Francs. Das Personal der Gepäckwagen wird mit 3 Francs pro Tag entlohnt und haftet für verloren gegangenes Gut. Das Monatsgehalt des Lokomotivführers ist von 480 auf 350 Francs gesunken. Der Kontrolleur bezieht für 372 Dienststunden monatlich 180 Francs Gehalt, früher erhielt er 240 Francs. Der Verdienst der Bremser stellt sich auf 40 ct pro Stunde. Die organisierten Eisenbahner wollen ihre Forderungen event[uell] durch einen Streik durchsetzen. Das erfolgreiche Vorgehen der Schweizer Eisenbahner im vorigen Jahre[1] ist nicht ohne nachhaltigen Einfluß auf ihre Stimmung und Haltung geblieben. Was sagt der deutsche Eisenbahn-Reformminister nach rückwärts, was sagt Herr von Thielen zu der Tatsache, daß in Frankreich ein Gewerkschaftsverband fast 100000 Eisenbahner umschließt und daß die Lohnsklaven in Uniform und Dienstmütze wie im Arbeitskittel einen allgemeinen Streik in ernste Erwägung ziehen? Wie aus den angeführten Tatsachen erhellt, hat der französische Eisenbahner seinen deutschen Kameraden nicht um ein Weniges an Ausbeutung zu beneiden. Dagegen hat er eins vor ihm voraus: Er ist der Sklave des Privatkapitals, aber nicht des Kapitalistenstaates mit seinen konzentrierten Machtmitteln den wirtschaftlich Abhängigen gegenüber. Er besitzt das Koalitionsrecht, damit größere Kraft und Bewegungsfreiheit im wirtschaftlichen Kampfe gegen seine Bedrücker. Der glückliche deutsche Eisenbahner aber bezahlt die Wonnen,

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[1] Die Schweizer Eisenbahner streikten vom 1. bis 13. März 1897. Sie errangen rückwirkend zum 1. März 1897 neue Dienstverträge und zum 1. Januar 1896 Lohnerhöhungen.