bei den Genossen in unserem Lande, wo wir in gleicher Weise des dem Volke zukommenden Wahlrechts zum Lande entbehren, die Frage anregen, ob denn nicht auch wir solche Demonstrationen veranstalten und dadurch dem arbeitenden Volke in unserem Ländchen die Notwendigkeit des Kampfes gegen die ihm bis heute aufgezwungene Rechtlosigkeit gefühlsmäßig nahebringen und durch den Anblick von Massen als nicht mehr aufzuhaltende historische Notwendigkeit vor Augen führen sollen. Wir wollen für jetzt nur das eine bemerken, daß wir einen diese Frage betreffenden Vorschlag der Parteiorganisation unterbreiten werden, und dann erst, nachdem diese ihre Auffassung festgelegt hat, für denselben an dieser Stelle Propaganda zu machen.
Dann geht der Artikel zur Frage der Organisation über und weist zahlenmäßig die Unzulänglichkeit der Organisation in Anhalt nach, worauf er also fortfährt: Zuletzt aber könnte dann auch das Mittel des Massenstreiks in Anwendung gebracht werden. Ist das arbeitende Volk so stark organisiert, dann ist’s auch eines Tages möglich, daß auf Anordnung der Leitung der organisierten Arbeiterklasse ein Teil der Produktion lahmgelegt wird, daß es heute heißt, jetzt streiken die Raffinisten auf bestimmte Zeit, und wird dann der Streik über die Maschinenfabriken verhängt, bis die Kreise, die für eine ruhige Abwicklung der Verhältnisse verantwortlich sind, mürbe werden und dem Volke geben, was ihm zukommt.
Wahrscheinlich aber wird es dann zu solchem Streikkampfe gar nicht erst kommen. Denn wo Macht auch nur latent ist, d. h. nur die Möglichkeit zum Hervortreten hat, da stellt sich auch das entsprechende Recht ein.
Und so kommen wir auch angesichts der neuerlichen Wahlrechtsdemonstrationen in Österreich und in Sachsen,[1] denen wir nicht im mindesten ihren Wert absprechen wollen, immer wieder zu dem Ende: Organisation, das ist die Hauptsache, Organisation auf allen Gebieten.
Die Tendenz des Artikels ist selbstverständlich eine sehr löbliche und es kann in der Tat nicht oft genug für die gewerkschaftliche und politische Organisation agitiert werden. Allein unser Anhalter Blatt verfällt doch dabei in denselben engen und einseitigen Standpunkt, der auf dem Kölner Gewerkschaftskongreß[2] zum Ausdruck kam. Die Idee, daß ein Massenstreik dann erst möglich sei, wenn die überwiegende Mehrheit des Proletariats bereits organisiert sei, widerspricht allen Erfahrungen der großen Lehrmeisterin auf dem Gebiete des Massenstreiks: der russischen Revolution. Die Genossen vergessen immer, daß nicht bloß der Weg durch die Organisation zum Kampf, sondern auch umgekehrt: durch den Kampf zur Organisation führt! Der Massenstreik, wie jede große Massenaktion, ist ja auch selbst ein vorzügliches Mittel,
[1] Im Oktober/November 1905 fanden in Österreich-Ungarn machtvolle Streiks und Straßendemonstrationen statt, die das allgemeine Wahlrecht forderten. Die Bewegung, an der Zehntausende Menschen teilnahmen, griff auf Mähren, Galizien, Krain, Tirol u. a. Gebiete über. Losungen der Sozialdemokratie, wie „Sprechen wir Russisch!“ und „Es lebe der Generalstreik!“ wurden aufgegriffen. Die Unruhen erfaßten auch die Armee und Flotte. Die Regierung versprach im Februar 1906, dem Parlament den Entwurf einer Wahlrechtsreform zu unterbreiten. Ein jedoch in vielerlei Hinsicht beschränktes Wahlrecht wurde schließlich im Januar 1907 verkündet. – In Sachsen gab es im November/Dezember 1905 unter Führung der Sozialdemokratie Wahlrechtskämpfe, in denen vor allem in Chemnitz, Dresden und Leipzig ein demokratisches Wahlrecht gefordert wurde. In Dresden kam es zwischen Polizei und Demonstranten zu blutigen Zusammenstößen.
[2] Der fünfte Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands fand in Köln vom 22. bis 27. Mai 1905 statt. In seiner Resolution heißt es: „Den Generalstreik, wie er von Anarchisten und Leuten ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Kampfes vertreten wird, hält der Kongreß für undiskutabel; er warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen.“ Kongreßprotokoll, Berlin o. J., S. 30.