Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 382

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Auf die Zunahme der Streikbewegung weist auch ein anderes Telegramm Wolffs:

Lüttich, 17. April. In Herstal haben 2000 Mann die Arbeit wieder aufgenommen. Trotzdem hat die Zahl der feiernden Arbeiter im Bassin Lüttich noch zugenommen. Sie beträgt gegenwärtig 40000. Bei Verviers hat sich der Ausstand auf alle umliegenden Ortschaften ausgedehnt.

Das Bureau Hirsch meldet:

In der gestrigen Versammlung im Volkshaus erklärte Senator Lafontaine, die Regierung wolle am Ruder bleiben, selbst wenn sie das Volk massakrieren müßte. Falls die Regierung nicht nachgebe, sei es am König, Abhilfe zu schaffen. Vandervelde teilte mit, daß von allen Seiten Unterstützungen für die Ausständigen einträfen. Entsprechend der Lage müsse der König entweder Pontius Pilatus werden, der jetzt über die Unruhen die Hände in Unschuld wasche, oder Schiedsrichter zwischen den Parteien sein. Von seinem Eintreten hänge es ab, welche Meinung das Volk für die Republik fasse.

Für die Haltung der Liberalen sind folgende Privatmeldungen der „Frankfurter Zeitung“ charakteristisch:

Brüssel, 17. April, 4,32 nachm[ittags]. Obgleich Hymans sich ausschließt, ist ein Teil der liberalen Abgeordneten, wie Lorand mir sagt, entschlossen, sich an den König zu wenden. – Hymans wird nicht sprechen, und er erklärte den sozialistischen Journalisten: „Eure Sache ist verloren, geht nach Hause.“

Brüssel, 17. April, 4,34 nachm[ittags]. Die Union Syndikale von Brüssel, das ist die Handelskammer, ist, wie ich höre, diesen Augenblick versammelt, um eine Audienz beim König und Intervention desselben im Sinne der Kammerauflösung im Interesse von Handel und Industrie zu verlangen.

Mit anderen Worten, die Herren Bourgeois wollen durch den Abbruch der jetzigen Kammerverhandlungen und die Neuwahlen die Entscheidung mit bewährter „liberaler“ Taktik hinausschieben.

Wir wissen nicht, bezweifeln aber, daß Hymans zu seinen Unkenrufen irgendwelchen Grund hat. Solange die Volksmasse auf der Straße steht, zu allem bereit, kann die Sache nicht verloren, sie kann höchstens verzögert sein. Allein, sollten die weisen Redensarten des liberalen Freundes auch in entferntem Maße Recht behalten, so wäre daran nur ein einziger Umstand schuld: der Umstand nämlich, daß unsere belgischen Führer durch zu große Rücksichtnahme auf ihre Hasenfüße von bürgerlichen Alliierten die höchste Energieanspannung und Entschlossenheit der Arbeitermasse gedämpft und so den richtigen Moment zum Dreinschlagen vielleicht verpaßt haben.

Doch wir hoffen noch auf das Beste! Nur noch wenige Stunden Geduld. Das Proletariat der ganzen Welt wartet mit klopfenden Pulsen auf die Nachricht.

Was uns die nächste Stunde auch bringt, einige Stunden solcher Erwartungen, einige solche Stunden, in denen die träge, bedächtig trippelnde alte Dame – Geschichte plötzlich von gewaltiger Kraft angespornt mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsrast, sind langer Jahre wert.

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