Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 303

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die den Anschluß bejahen und die Hand in Hand mit ihren Brüdern aller Länder gehen wollen, ohne sich um die unglückselige Teilung zu kümmern, zu der es zwischen Rußland, Deutschland und Österreich gekommen ist. Meine Freunde und ich haben die Ehre, diese Fraktion zu vertreten.[1] Andererseits gibt es die mehr oder weniger nationalistischen Sozialisten, die vor allem den utopischen und phantastischen Plan der Neubildung Polens verfolgen.[2] Und eben gegen diese schädliche Utopie, gegen die nationalistische Tendenz kämpfen wir mit all unserer Kraft, denn wir sind überzeugt, daß das Proletariat weder zur Veränderung der politischen und kapitalistischen Geographie noch zur Neubildung bürgerlicher Staaten in der Lage ist, sondern daß es gezwungen ist, sich auf den bestehenden, historisch entstandenen Grundlagen zu organisieren, um die sozialistische Macht und die soziale Republik zu erobern (Beifall.), durch die allein das Proletariat der ganzen Welt befreit werden kann.

Bei allen unseren Auseinandersetzungen über Grundlagen und Theorien müssen sich die nationalistischen Sozialisten immer geschlagen geben. Sie sind es, die die Flucht ergriffen haben. Als Geschlagene wagen sie es nicht mehr, uns bei Tageslicht entgegenzutreten, und so bleibt ihnen nichts weiter übrig, als Intrigen und Verleumdungen als Kampfmittel gegen uns einzusetzen. Getreu dem Prinzip der jesuitischen Politik, daß der Zweck die Mittel heiligt, versuchen sie, uns in den Rücken zu fallen. Sie versuchen uns zu verleumden, indem sie behaupten, daß wir im Dienste der Polizei stehen und daß wir Fürsprecher der Germanisierungspolitik der Regierung sind. Sie bemühen sich, in recht großer Anzahl zu Sozialistenkongressen zu kommen, um so die Mehrheit zu bilden und ihre politischen Gegner auf die einfachste und bequemste Weise vor die Tür zu setzen.

Im übrigen, Bürger, geht es hier durchaus nicht darum, meinen beiden Freunden und mir, deren Mandate angefochten wurden, die Möglichkeit zur Teilnahme an den Beratungen des Kongresses zu geben. Ich gehöre, getreu meinen Prinzipien des internationalen Sozialismus, auch der deutschen Delegation an, ich gehöre zu ihr und ich bleibe auch bei ihr. (Beifall.)[3] Es geht vielmehr um die polnischen Proletarier, die nun keine Delegierten für Oberschlesien und Warschau mehr haben; sie wollen an den Beratungen ihrer Brüder aus der ganzen Welt teilnehmen, und sie haben ein Recht darauf; es geht auch um die Grundsätze sozialistischer Gerechtigkeit und Ehre. Glauben Sie mir, Bürger, die Tränen stehen mir in den Augen, weil ich gezwungen bin, Ihnen hier die schändliche Handlungsweise meiner polnischen Genossen zu enthüllen. Wie können wir hier zusammenkommen, um über Wege und Mittel des Kampfes zu beraten; wie können wir hier zusammenkommen, um die Menschheit von bürgerlicher Moral und dogmatischen Lügen zu befreien, wenn sich einige unter uns der gleichen Mittel bedienen? Sie sollten sich schämen, und sie sollten rot werden,

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[1] Gemeint ist die im Juli 1893 in Zürich von Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Julian Marchlewski und Adolf Warski gegründete Sozialdemokratie des Königreichs Polen (Socjaldemokracja Królestwo Polskiego) – SDKP. Zu der neuen Partei gehörten neben der kleinen Gruppe junger Emigranten in der Schweiz der 1889 in Warschau von Julian Marchlewski und Jan Leder gebildete Verband der Polnischen Arbeiter (Zwia˛zek Robotników Polskich) und ein Teil des von Marcin Kasprzak gegründeten II. oder „Kleinen Proletariats“. Die SDKP verstand sich als internationalistische Partei, die konsequent zu den Auffassungen von Marx und Engels stand. Sie war von Anfang an gegen das auf die Wiederherstellung Polens abzielende Programm der PPS. – 1892 war bei Paris durch verschiedene sozialistische Zirkel die Polnische Sozialistische Partei (Polska Partia Socjalistyzna) – PPS – gegründet worden. Das Programm der PPS enthielt zusammen mit den sozialistischen Forderungen das Ziel der Unabhängigkeit Polens, für das sie sich auf Marx und Engels stützten. Sie orientierte auf den revolutionären Sturz des Zarismus durch die Arbeiterklasse in Rußland, wobei das gemeinsame Anliegen Nationalitätenunterschiede in den Hintergrund rücken sollte. Ihre Zeitung war die „Sprawa Robotnicza“ (Arbeitersache). Da um die Jahrhundertwende durch Strukturveränderungen polnischsprachige Arbeiterkreise aus Wilna (Vilnius) und Bial/ystok hinzugewonnen werden konnten, nannte sie sich nunmehr Socjaldemocracja Królestwa Polskiego i Litwy/Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens (SDKPiL). Bis zum Ausbruch der Revolution hatte sie 1000 bis 2000 Mitglieder, in der Revolution wurde sie zu einer Massenpartei und zählte 1906 etwa 30000 Mitglieder.

[2] 1892 war bei Paris durch verschiedene sozialistische Zirkel die Polnische Sozialistische Partei (Polska Partia Socjalistyzna) – PPS – gegründet worden. Das Programm der PPS enthielt zusammen mit den sozialistischen Forderungen das Ziel der Unabhängigkeit Polens, für das sie sich auf Marx und Engels stützten. – In Lemberg (Lwiw) wurde 1892 die Sozialdemokratische Partei Galiziens (Socjalno-Demokratyczna Partia w Galicji) gegründet, aus der mit ihrem führenden Vertreter Ignacy Daszyński 1897 die Polnische Sozialdemokratische Partei Galiziens und des Teschener Schlesiens (Polska Partia Socjalno-Demokratyczna w Gallicji i S´la˛ska Cieszyn´skiego) – PPSD – hervorging.

[3] Rosa Luxemburg hatte ihr Mandat zum Kongreß von der Parteiorganisation Posen erhalten.