Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 99

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Realisierung sich jeder, je nach seiner Lage und seinem Temperament, in der nächsten Zukunft oder in der Unendlichkeit nach Belieben denken konnte. Um so klarer und deutlicher waren dafür die unmittelbaren Aufgaben in dem Programm formuliert. Sein Kern, das war die Empfehlung der friedlichen Arbeit auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet an Stelle der nationalen Waffenkämpfe und die Empfehlung der unzusammenhängenden Tätigkeiten der einzelnen in ihren Berufen an Stelle des einheitlichen politischen Willens der Nation oder einer Klasse. Das war das in das nationale Programm hineingetragene Manchestertum, das politische Laisser passer, die freie Konkurrenz in der Rettung des Vaterlandes. Diese freie Konkurrenz bedeutete freilich in den konkreten Verhältnissen des Polens der siebziger Jahre nichts anderes als die bürgerliche freie Konkurrenz, den Kapitalismus. Aber die Förderung des Kapitalismus erschien jetzt selbst als das Mittel zur Wiedergeburt Polens. Die Konsequenz des Programms war die vollständige Verzichtleistung auf jede politische Aktion. Aber diese Verzichtleistung wurde im Interesse der politischen Befreiung proklamiert. Das Ergebnis war die Aussöhnung mit der russischen Herrschaft, aber das Ziel dieser Aussöhnung hieß die Unabhängigkeit Polens.

Die Lehre von der „organischen Arbeit“ erlöste wie ein Zauberwort die Gesellschaft aus der Erstarrung, in der sie sich in der ersten Zeit nach dem Krache der sechziger Jahre[1] inmitten von Trümmern alter Altäre und Götter befand. Es wurde wieder ein Modus gefunden, der brutalen Faust des Unterdrückers zu trotzen, und zugleich ein idealistischer Vorwand, um der bürgerlichen Entwicklung Tür und Tor zu öffnen. Der Adel durfte ruhig mit dem bürgerlichen Profit das russische Joch akzeptieren, denn beide trugen jetzt das Signum „Fürs Vaterland“. Die Intelligenz konnte sich den liberalen Berufen widmen, welche jetzt ein Mittel der „nationalen Kulturarbeit“ waren. Die „Arbeit am Fundament“, d. h. die Aufklärung des Bauerntums, wurde zum Ventil für den Tatendrang der „unruhigen Elemente“. Die Zeit der siebziger und der ersten Hälfte der achtziger Jahre ist eine Epoche der enthusiastischen Pflege der Wissenschaften in Polen – besonders des Darwinismus, Positivismus und der soziologischen Theorien Spencers –, eine Epoche der Harmonieduselei mit dem „Bäuerlein“ – es galt als Ehre, sich in die Gemeindeämter wählen zu lassen, und es regnete rührende „Bauernnovellen“ –, eine Epoche des starken Aufschwungs der Presse und bei alledem – die Zeit der fieberhaften industriellen Gründungen.

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[1] Eine Welle von Bauernerhebungen 1860/61 führte zum Volksaufstand vom 22. Januar 1863 im Königreich Polen, in Litauen, Belorußland und Teilen der Ukraine gegen nationale und soziale Unterdrückung, der 1863/64 blutig niedergeschlagen werden konnte, weil keine nationale Führung bestanden hatte.