Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 318

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Rußland im Jahre 1898

I

Leipzig, 18. Januar

Das gesellschaftliche Leben des Zarenreiches ist seit längerer Zeit schon „ein System von Widersprüchen“: das Modernste neben dem Urwüchsigsten, eine hochentwickelte kapitalistische Industrie und daneben die barbarischste Arbeitsweise in der Landwirtschaft, asiatische Formen des politischen Regiments und gleichzeitig fortschrittlichste Sozialreformen, kostspieligste staatliche Riesenunternehmungen und dabei ein massenhafter Hungertod im Volke.

Auch das Jahr 1898 hat alle die grellen Widersprüche gesteigert und zum sinnfälligen Ausdrucke gebracht.

Die Achillesferse des russischen Kapitalismus war von je die Eisenindustrie. Während in den anderen wichtigen Produktionszweigen, wie der Textilindustrie, Rußland durch eine hohe Schutzzollpolitik sich glücklich vom Auslande fast gänzlich zu befreien verstand, wollte die grundlegende kapitalistische Industrie, die Eisenindustrie, trotz des großen Mineralreichtums Rußlands infolge der unvergleichlichen Schwerfälligkeit und Rückständigkeit des Betriebes immer noch nicht auf die Beine kommen. Das machte sich namentlich bei den großen Eisenbahnunternehmungen der Regierung in der letzten Zeit sehr fühlbar. Das verflossene Jahr bedeutet einen plötzlichen Siebenmeilenschritt vorwärts. Die Herstellung von Roheisen ist auf einmal um 20,8 Millionen Pud[1]* gestiegen und erreicht nun 134,6 Mill. Pud, so daß Rußland jetzt unter den europäischen Staaten die dritte Stelle einnimmt. Der Aufschwung dauert aber fort, und noch etwa 10 große Werke sind gegenwärtig im Bau, so daß in den nächsten Jahren eine Roheisengewinnung von 200 Mill. Pud erwartet wird.

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[1] 1 Pud = 16,38 Kilogramm.