Ausnahmezustand über Österreichisch-Galizien
[1]In Österreichisch-Galizien herrscht eine unbeschreiblich gedrückte Stimmung. Die Verhängung des Standrechts[2] und besonders die Ankunft des Henkers in Neusandez hat die Panik aufs äußerste gesteigert. Nur die armen verhafteten Bauern, die man tagtäglich auf Wagen, gefesselt und von Ulanen mit gezogenem Säbel umringt, in die Stadt bringt, zeigen ein lächelndes Gesicht und treiben Scherze. Die Armen glauben fest, daß man sie nur so zum Schein verhafte und gleich freilassen müsse, denn sie hätten ja „auf Kaisers Befehl“, auf Grund einer besiegelten Ermächtigung vom Starosten geplündert! Die Herren Grundbesitzer machen zu diesem Schicksal ihrer Landsleute ein viel ernsteres Gesicht, sie haben nämlich andre Sorgen: „Alle Gefängnisse in Neusandez“, schreibt die Krakauer „Reforma“, „sind überfüllt, das Volk (!!) aber fragt: Wer wird auf den Feldern arbeiten? Wer wird das Feld abräumen? Denn die Ernte kommt in einer, höchstens zwei Wochen, und da sitzen arbeitslos (!) in den Mauern die kräftigsten, jüngsten Arme (!). Die energischeren Grundbesitzer sollten doch Maßregeln treffen, damit man die Leute für die Erntezeit freigibt. Sie werden doch nicht nach Amerika fortlaufen, denn sie sind arm, und es ist ja auch nicht schwer, sie wieder einzufangen!“ Noch nie seit den ersten industriellen Kindermorden in England hat sich die Sprache des Kapitals zu einem so frechen Zynismus verstiegen! Leute, denen vielleicht das Todesurteil, sicher jahrelanges Gefängnis bevorsteht, sollen zur Ernte
[1] Redaktionelle Überschrift.
[2] Am 28. Juni 1898 hatten die österreichische Regierung und der neue Statthalter von Galizien, Graf Leon Piniński, über 32 Kreise Galiziens für etwa 6 Monate den Ausnahmezustand und über die Kreise Neusandez und Limanowski das Standrecht verhängt. Die Repressalien sollten die in Galizien stärker werdende sozialistische Bewegung zerschlagen.