Die erste englische Militärreform
Leipzig, 26. Mai
Die Bill, die der englische Kriegsminister Lord Lansdowne am 18. Mai im Haus der Lords eingebracht hat, ist der erste Schritt auf der Bahn der militärischen Reformen, die der Krieg mit den südafrikanischen Republiken[1] für England im Gefolge haben wird.
Auf den ersten Blick sind die vorgeschlagenen Reformen ziemlich unbedeutend, und sie berühren insbesondere die gegenwärtige Organisation der englischen ständigen Armee gar nicht. Sie enthalten vielmehr nur zwei nebensächliche Bestimmungen, die sich auf die Freiwilligenkorps beziehen. Allein, wenn man die bestehende militärische Organisation Englands in Betracht zieht und die wirkliche innere Tendenz der neuen Reformvorschläge sich vor die Augen hält, so wird ihre durchgreifende Bedeutung ganz zweifellos.
Die Streitkräfte Englands nach der gegenwärtigen Organisaton bestehen aus drei Gruppen: aus dem stehenden Heer (Royal Army), der Miliz (Militia) und den Freiwilligenkorps (Volunteer Corps). Das stehende Heer beträgt – wenigstens nach dem Gesetz – in Kriegszeiten 152 000, zusammen mit den Reserven 234 000 Mann; in der Wirklichkeit beträgt es mitsamt den Reserven nicht mehr als 220 000 Mann. Am wichtigsten sind aber die gesetzlichen Bestimmungen über den Gebrauch dieser Streitkräfte.
Nach dem geltenden englischen Gesetz darf die Regierung nur einen Bruchteil des stehenden Heeres außerhalb der Grenzen des britischen Reiches einsetzen. Was die Miliz betrifft, so ist sie ausschließlich zur Verteidigung der britischen Inseln vor einer feindlichen Invasion bestimmt. Das Gesetz sagt wörtlich, daß die Miliz nur „in Fällen großer nationaler Gefahr und dringender Not“ zusammenberufen werden darf. Endlich die
[1] Nach der Entdeckung von Goldfeldern in Transvaal hatte England im Oktober 1899 einen Krieg gegen die Burenrepublik in Südafrika provoziert. Nach anfänglichen militärischen Schwierigkeiten gelang es England durch einen brutalen Unterdrückungsfeldzug, die Buren im Mai 1902 der britischen Herrschaft zu unterwerfen.