Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 57

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Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie

I Die türkischen Zustände

Man begegnet in der Parteipresse nur zu oft dem Bestreben, die Vorgänge in der Türkei[1] als ein reines Produkt des diplomatischen Intrigenspiels, besonders von russischer Seite, darzustellen. Eine Zeitlang konnte man sogar auf Preßstimmen stoßen, wonach die türkischen Greuel überhaupt nur eine Erfindung wären, die Baschi-Bosuks[2] wahre Mustermenschen von Christen und die Revolten der Armenier ein Werk mit russischem Rubel bezahlter Agenten.

Was an dieser Stellungnahme vor allem auffällt, ist, daß sie sich grundsätzlich durch nichts von der bürgerlichen unterscheidet. Hier wie dort die gleiche Zurückführung großer gesellschaftlicher Erscheinungen auf allerlei „Agenten“, also auf zielbewußte Einwirkungen des diplomatischen Kabinetts. Bei bürgerlichen Politikern können solche Standpunkte natürlich nicht verwundern: Die Leute machen tatsächlich die Geschichte auf diesem Gebiete, für ihre Stellungnahme zu den Augenblicksinteressen hat daher der dünnste Faden einer diplomatischen Intrige eine große praktische Bedeutung. Für die Sozialdemokratie dagegen, die auf dem internationalen Felde einstweilen die Vorgänge nur beleuchtet und die vor allem die Erscheinungen des öffentlichen Lebens auf tiefer liegende materielle Ursachen zurückzuführen pflegt, erscheint die gleiche Politik ganz zwecklos. Die Sozialdemokratie kann vielmehr in der auswärtigen Politik, ganz wie in der inneren, eine eigene Stellung einnehmen, die auf beiden Gebieten von gleichen Standpunkten bestimmt werden muß: von den inneren sozialen

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[1] In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts loderten ständig, vor allem in Armenien, Kreta und Makedonien, Aufstände gegen die türkische Fremdherrschaft auf, die grausam niedergeschlagen wurden.

[2] Gut bewaffnete, irreguläre Truppen in der alten Türkei, berüchtigt wegen ihrer Greueltaten und Plündereien. Sie traten erstmals im russisch-türkischen Krieg 1853 auf.