Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 483

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Eine taktische Frage

Leipzig, 6. Juli

Der Eintritt Millerands in das Ministerium Waldeck-Rousseau[1] ist wohl geeignet, nicht nur für die Sozialisten Frankreichs, sondern auch anderer Länder den Anlaß zu mancher taktisch-prinzipiellen Betrachtung zu bieten. Die aktive Teilnahme der Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung ist jedenfalls eine Erscheinung, die außerhalb des Rahmens der gewöhnlichen Betätigungsformen des Sozialismus liegt. Haben wir hier vor uns eine ebenso berechtigte und zweckmäßige Form, der Sache des Proletariats zu dienen, wie z. B. in der Tätigkeit im Parlament, im Gemeinderat? Oder ist dies im Gegenteil ein Bruch mit den Prinzipien und der Taktik des Sozialismus? Oder aber endlich bildet die Teilnahme der Sozialisten an der bürgerlichen Regierung einen Ausnahmefall, der unter bestimmten Voraussetzungen zulässig und notwendig, unter anderen verwerflich und schädlich ist?

Vom Standpunkte der opportunistischen Auffassung des Sozialismus, wie sie in der letzten Zeit in unserer Partei, namentlich in den Theorien Bernsteins, laut wurde, d. h. vom Standpunkte der stückweisen Einführung des Sozialismus in die bürgerliche Gesellschaft, muß auch der Eintritt der sozialistischen Elemente in die Regierung ebenso erwünscht wie natürlich erscheinen. Kann man einmal den Sozialismus überhaupt allmählich, in kleinen Dosen in die kapitalistische Gesellschaft einschmuggeln und verwandelt sich andererseits der kapitalistische Staat von selbst allmählich in einen sozialistischen, dann ist eine fortschreitende Aufnahme der Soziali-

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[1] Alexandre-Etienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformerische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Reformisten.