Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 373

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/373

Erster Teil

[1]
1. Die Bernsteinsche Methode
[2]

Wenn Theorien Reflexe[3] der Erscheinungen der Außenwelt im menschlichen Hirn sind, so muß man angesichts der [neuesten] Theorie von Eduard Bernstein jedenfalls hinzufügen — manchmal auf den Kopf gestellte Reflexe[4]. Eine Theorie von der Einführung des Sozialismus durch Sozialreformen – in der Ara Stumm-Posadowsky[5], von der Kontrolle der Gewerkschaften über den Produktionsprozeß – nach der Niederlage der englischen Maschinenbauer[6], von der sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit – nach der sächsischen Verfassungsrevision[7] und den Attentaten auf das allgemeine Reichstagswahlrechte! Allein der Schwerpunkt der Bernsteinschen Ausführungen liegt unseres Erachtens nicht in seinen Ansichten über die praktischen Aufgaben der Sozialdemokratie, sondern in dem, was er über den Gang der objektiven Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft sagt, womit jene Ansichten freilich im engsten Zusammenhange stehen.

Nach Bernstein wird ein allgemeiner Zusammenbruch des Kapitalismus mit dessen Entwicklung immer unwahrscheinlicher, weil das kapitalistische

Nächste Seite »



[1] Besprechung der Bernsteinschen Aufsatzreihe: Probleme des Sozialismus. In: Neue Zeit, 1896/97. [Fußnote im Original]

[2] 2. Auflage: Die opportunistische Methode.

[3] 2. Auflage: Spiegelbilder.

[4] 2. Auflage: – nach dem endgültigen Einschlafen der deutschen Sozialreform. – Karl Freiherr von Stumm. Großindustrieller und Freund Wilhelms II., Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei, sowie Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern und Vizekanzler von 1897 bis 1907, verfochten als schärfste Gegner der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie die Anwendung brutalster Gewalt bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse.

[5] Am 1. April 1898 begann der Streik von etwa 100 000 Kohlenarbeitern in Südwales für eine 20prozentige Lohnerhöhung. Er mußte jedoch am 1. September 1898 ergebnislos abgebrochen werden, da die finanziellen Mittel der Streikenden erschöpft waren.

[6] 5 Am 27. März 1896 wurde das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht zur Zweiten Kammer des Landtages in Sachsen eingeführt, gegen das bereits seit Mitte Dezember 1895 Hunderttausende auf Massenversammlungen demonstriert hatten.

[7] Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern, hatte am 11. Dezember 1897 an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten ein geheimes Rundschreiben gesandt, in dem er Vorschlage für gesetzliche Maßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit forderte. Der deutschen Sozialdemokratie war es gelungen, das Geheimdokument in die Hand zu bekommen. Sie veröffentlichte es am 15. Januar 1898 im „Vorwärts“. Am 6. September 1898 kündigte Wilhelm II. in einer Rede in Oeynhausen die für 1899 vorgesehene Gesetzesvorlage, bekannt geworden als „Zuchthausvorlage“, an.