Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 654

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organisationen den Bedürfnissen der Bewegung genügen. Ihre Unzulänglichkeit sollte sich herausstellen, sobald das französische Proletariat vor bedeutsame Aufgaben des Klassenkampfes im genauen Sinne dieses Wortes, d. h., des von den Arbeitermassen in einer gemeinsamen Aktion zu führenden politischen Kampfes, gestellt wurde. Und dies war der Fall in den 90er Jahren.

Hat der Besitz von wichtigsten politischen Rechten das Proletariat nicht zu einem allgemeinen Angriffsfeldzuge gegen die bürgerliche Republik sich zusammentun lassen, so hat dafür die bald eingetretene Zersetzung der herrschenden Bourgeoisie der Arbeiterklasse die geschichtliche Sendung der Verteidigung der Republik gegen die Bourgeoisie zugewiesen. Der Panamaskandal[1], das Boulanger-Abenteuer[2], die Südbahnaffäre[3], die Dreyfus-Krise[4] sind die Marksteine der bürgerlichen Zersetzung Frankreichs seit Ende der 80er bis Ende der 90er Jahre.

Es galt, die Republik, die Demokratie, den Gegenwartsstaat vor dem Untergang in der Barbarei retten, um ihn zum sozialistischen Gemeinwesen heraufbilden zu können. Die große geschichtliche Aufgabe, der große zusammenfassende Klassenkampf trat an das Proletariat heran, und die Zersplitterung der Sozialisten erwies sich zum erstenmal als ein ernstes Hindernis der sozialistischen Entwicklung in Frankreich.

II

Leipzig, 19. Dezember

Die chronische innere Krise, die die Dritte Republik seit Ende der 80er Jahre durchmacht, hat den französischen Sozialismus vor eine neue wichtige Aufgabe gestellt: den Gegenwartsstaat vor einer verfrühten Zersetzung zu bewahren, ihn lebensfähig und entwicklungsfähig zu erhalten. Allein schon die erste, die boulangistiscbe Krise hat gezeigt, woran es den alten Parteiverhältnissen gebricht, um dieser Aufgabe gerecht zu werden: Es war dies die Fähigkeit, das sozialistische Endziel mit der praktischen Tagespolitik organisch zu verbinden.

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[1] 1892 war im Zusammenhang mit dem Ruin der französischen Panamagesellschaft von 1888/89 eine parlamentarische Bestechungsaffäre aufgedeckt worden, durch die eine große Anzahl führender Politiker belastet wurde. Tausende von Kleinaktienbesitzern, die zur Finanzierung des Baus des Panamakanals aufgerufen worden waren, wurden um ihre Ersparnisse gebracht.

[2] Der französische General Georges-Ernest Boulanger, ein Feind der Republik, hatte 1889 versucht, eine reaktionäre Militärdiktatur zu errichten. Er floh nach Belgien, nachdem seine Staatsstreichpläne gescheitert waren.

[3] Im Januar und Oktober 1895 hatte die Aufdeckung einer großangelegten Fälschung der Marseiller Südbahngesellschaft in Frankreich Regierungskrisen ausgelöst. Die Gesellschaft hatte die zwischen ihr und dem Staat vertraglich festgelegten Konzessionen zum Bau von Eisenbahnlinien mißbraucht und riesige Gewinne erzielt.

[4] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.