Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 709

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Agrarische Interessen und Zollpolitik

[1]

I

Leipzig, 23. April

Unsere Agrarier bezeichnen bekanntlich nach wie vor den deutsch-russischen Handelsvertrag von 1894 als ein „nationales Unglück“, als einen Ruin für die deutsche Landwirtschaft, und ihr oberstes Streben ist gegenwärtig darauf gerichtet, die ablaufenden Handelsverträge nicht mehr zu erneuern, sondern zur autonomen Tarifpolitik und zum agrarischen Hochschutzzoll zurückzukehren. Angesichts dessen ist es von besonderer Wichtigkeit, die bisherigen Wirkungen des so viel verwünschten Handelsvertrags mit Rußland auf die deutsche Landwirtschaft an der Hand der Zahlen und Tatsachen zu prüfen und sie namentlich mit den Verhältnissen vor der Wirkungszeit des Vertrags, die ja das heutige Ideal unserer Agrarier bilden, zu vergleichen.

Ein neulich erschienenes Buch von List, eines aus der Münchener Serie der volkswirtschaftlichen Studien, gibt hierüber reichliches und gewissenhaft bearbeitetes Material, das geeignet ist, über die wichtige Frage des agrarischen Zollschutzes helles Licht zu verbreiten.[2]

Was sich vor allem aus den zwei Jahrzehnten des Bestehens des agrarischen Zollschutzes mit all seinen Wechselfällen ergibt, ist dieses, daß der Schutz, und sei er noch so stark, nicht in der Lage ist, die deutsche Landwirtschaft zur Befriedigung des einheimischen Bedarfs an Getreide zu befähigen. In den dem Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrags voraufgegangenen erbitterten Kämpfen war ja eines der wichtigsten Argumente der Agrarier der Hinweis darauf, daß Deutschland etwa neun Zehn-

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[1] Diese Artikelserie ist nicht gezeichnet. Aus Briefen Rosa Luxemburgs vom 28. Januar und 24. April 1900 an Leo Jogiches geht hervor, daß sie die Verfasserin ist. (Siehe GB, Bd. 1, S. 446 u. 458.)

[2] Alfred List: Die Interessen der deutschen Landwirtschaft im deutsch-russischen Handelsvertrag vom 10. Februar 1894, Stuttgart 1900. [Fußnote im Original]