Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 231

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/231

Zum Stuttgarter Parteitag

[1]

Dresden, 1. Oktober

Unter hageldicht von allen Seiten niedersausenden Schlägen der Reaktion, inmitten des heißesten Gefechts mit den Feinden der Arbeiterklasse um ihre fundamentalsten Rechte tritt diesmal der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie zusammen. Es ist dies keine friedliche Konferenz bei schönem Wetter, der behaglichen Ruhe, es ist ein unter rasch aufgespanntem Zelt, inmitten des Kriegsschauplatzes, unter feindlichem Feuer, in heißen Pulsschlägen und doch mit eiserner Ruhe in Kaltblütigkeit beratender Kriegsrat.

In der Tat, seit dem Sozialistengesetz in dem ganzen letzten Jahrzehnt haben wir noch nie einen Augenblick gehabt, in dem die politischen Gegensätze, unser Kampf mit den dunklen Mächten der kapitalistischen Gesellschaft so zugespitzt waren wie gerade jetzt. Einerseits das wahnsinnige, die Interessen des Volkes mit Füßen tretende, seinen berechtigten Forderungen hohnsprechende Wettrennen des Militarismus und Marinismus, in das sich Deutschland kopfüber stürzt, die ruhige kulturelle Entwicklung größten Gefahren aussetzend. Andererseits der Beutezug des feudalistischen Junkertums und seine Brotverteuerungsverschwörung gegen das arbeitende Volk. Von dritter Seite der Anschlag aller vereinigten Reaktionsmächte auf das politische Grundrecht der Arbeiterklasse, auf das Reichstagswahlrecht[2] Von vierter Seite die neueste Attacke, die das

Nächste Seite »



[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Er wurde in die von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs aufgenommen. Auch ein Textvergleich mit der Rede auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 3. bis 8. Oktober 1898 in Stuttgart (siehe Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 3. bis 8. Oktober 1898 in Stuttgart. In: GW, Bd. 7/1, S. 236–238) läßt darauf schließen, daß Rosa Luxemburg die Verfasserin des Artikels ist.

[2] Am 22. Januar 1897 hatte Alfred Graf von Waldersee, Kommandierender General des in Altona stationierten IX. Armeekorps, in einer geheimen Denkschrift an Wilhelm II. einen Staatsstreich zur Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts und zur militärischen Niederschlagung der Arbeiterbewegung gefordert. Während der Vorbereitung der Reichstagswahlen vom Juni 1898 waren dann Pläne reaktionärer Kreise bekannt geworden, die vorsahen, in Zusammenarbeit mit der Regierung das bestehende Reichstagswahlrecht zu beseitigen.