Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 37

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Der Sozialpatriotismus in Polen

Die Stellung, die S. Haecker (Krakau) und seine Genossen in dem Artikel über den „Sozialismus in Polen“ in der „Neuen Zeit“, Nr. 37[1], dem Sozialpatriotismus gegenüber eingenommen haben, ist unseres Erachtens keineswegs geeignet, in dieser Frage Klarheit zu schaffen. Nach Haeckers Erklärungen soll der Unabhängigkeit Polens kein Platz im Programm der polnischen Sozialisten eingeräumt werden, sie soll aber als ein „Postulat“ in der Agitation zur Geltung kommen. Es ist jedoch selbstverständlich, daß, ob man die fragliche Forderung „Programm“ oder „Postulat“ nennt, die Sache unverändert bleibt. Die sozialpatriotischen Tendenzen führen zum kleinbürgerlichen Nationalismus, nicht weil sie im Programm geschrieben stehen, sondern weil sie in der Agitation betätigt werden. Ein bloßer Namenswechsel beseitigt also weder die Notwendigkeit, eine Begründung der sozialpatriotischen Forderung vom sozialdemokratischen Standpunkt zu geben, noch auch die nachteiligen Folgen der Annahme dieser Forderung in der Agitation.

Ebensowenig weiß Haecker über die Durchführbarkeit dieses „Postulats“ etwas Befriedigendes zu sagen. Wenn er beteuert, daß er und seine Genossen „ja nicht von vornherein behaupten“, sie seien imstande, „die Unabhängigkeit Polens vor dem großen Kladderadatsch durchzuführen“, so ist das keine Lösung der Frage, sondern ein vergeblicher Versuch, ihr aus dem Wege zu gehen. Denn die Wiederherstellung Polens als eines Klassenstaates erst nach „dem großen Kladderadatsch“ ist ein Unsinn und die nationale Befreiung Polens nach demselben ist selbstverständlich, kann also kein besonderes Postulat in der heutigen Agitation bilden. Was aber das wich-

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[1] S. Haecker: Der Sozialismus in Polen. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 14. Jg. 1895/96 Zweiter Band, S. 324–332.