Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 715

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Man sieht, daß der Vertragszoll im Preise fast vollkommen, also relativ viel stärker zum Ausdruck kommt als der autonome 50-Mark-Zoll. Dabei ist aber noch zu berücksichtigen, daß die hohen Preise der Periode 1888 bis 1891 nicht etwa in der Hauptsache auf die Wirkung des deutschen Schutzzolles, sondern auf die allgemeine steigende Konjunktur jener Periode und auf den Umstand zurückzuführen sind, daß der englische Markt durch den Zusammenbruch des amerikanischen Corners im Jahre 1887 stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, während der deutsche, auf russisches Getreide angewiesene Markt von dem amerikanischen Preissturz in diesem Falle viel weniger berührt worden ist.

An sich erfüllt also ein auf der sicheren Grundlage von Handelsverträgen aufgebauter mäßiger Zollschutz seine Aufgabe viel stabiler und vollkommener als autonom-hochschutzzöllnerische Experimente. Vom eigenen Standpunkte der Agrarier, wenn sie die Lage einmal kühl und klar überschauen, erscheint die bisherige Handelsvertragspolitik als der einzig praktische „Schutz“ für ihre Interessen.

III

Leipzig, 25. April

Um die agrarischen Zollbestrebungen richtig zu beurteilen, muß man sich den Gang des Getreidehandels in den letzten Jahrzehnten im ganzen vergegenwärtigen.

Es sind zwei Richtungen hauptsächlich, nach denen sich die Entwicklung des modernen Getreidehandels vollzieht. Vor allem äußert sie sich in dem Zug nach Zentralisation in der inneren Organisation des Handels. Schon seit jeher hatten sich in jedem Lande, so auch in Deutschland, Mittelpunkte des Großhandels, wie Königsberg, Danzig, Stettin, Berlin, herausgebildet. Aber daneben war in Deutschland jede einzelne Stadt der Mittelpunkt eines lokal begrenzten Verkehrs, und jede Gegend wurde nur von dem nächstliegenden kleinen Handelszentrum mit Getreide versorgt, bzw. konnte nur in diesem Zentrum sein Getreide losschlagen.

Mit der Zunahme der Getreideein- und -ausfuhr wurden diese kleinkommerziellen Verhältnisse rasch revolutioniert. Heute sind es nurmehr einige wenige Städte, die für ganz Deutschland den Getreidehandel vermitteln. Mannheim beherrscht den ganzen Handel Südwestdeutschlands, Duisburg versorgt das rheinisch-westfälische Industriegebiet, Königsberg ist für den Osten ausschlaggebend, Berlin bildet das Zentrum für ganz Mitteldeutschland, wobei Hamburg und Stettin ihren Eigenhandel zum

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