Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 117

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Erster Teil • Die Geschichte und der heutige Stand der polnischen Industrie

1. Die Manufakturperiode 1820–1850

Die politischen Ereignisse versetzten Polen gegen Anfang des 19. Jahrhunderts in gänzlich neue Verhältnisse. Aus den eigenartigen naturalwirtschaftlichen, feudal-anarchischen Zuständen der Adelsrepublik, die wir in dem Polen des 18. Jahrhunderts vorfinden, geriet es durch die Teilungen[1] unter ein Regime des aufgeklärten Absolutismus und unter die zentralistisch-bürokratische Administration von Preußen, Österreich und Rußland. Der uns hier interessierende russische Hauptteil Polens erhielt zwar sehr bald, noch als Herzogtum Warschau und später nach dem Wiener Kongreß[2] eine eigene ständische Verfassung, sie war aber von derjenigen des alten Polens himmelweit verschieden, und der ganze administrative, finanzielle, militärische, gerichtliche Staatsapparat war auf einen modernen zentralisierten Staat zugeschnitten. Mit den ökonomischen Verhältnissen, auf welche derselbe aufgepfropft war, befand er sich im grellsten Widerspruch. Das ökonomische Leben Polens konzentrierte sich nach wie vor in dem Grundbesitz. Die im 13. Jahrhundert begonnene Entwicklung des städtischen Handwerks war im 17. Jahrhundert im Sande verlaufen, die Versuche des Magnatentums am Ende des 18. Jahrhunderts, eine Manufaktur zu schaffen, gingen ebenfalls in die Brüche. Der Grundbesitz war aber ganz und gar ungeeignet, zur Basis einer modernen Staatsorganisation zu dienen. Schon durch die Abhängigkeit von dem Weltmarkt, in die er im alten Polen seit dem 15. Jahrhundert geraten war, zu einer höchst extensiven Latifundienwirtschaft und zur äußersten Erpres-

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[1] Im Ergebnis der drei Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795 waren die Westgebiete an Preußen und Galizien samt Krakau an Österreich gegangen, das sogenannte Kongreßpolen bzw. „Königreich Polen“ wurde auf dem Wiener Kongreß von 1815 in Personalunion mit Rußland verbunden. Nach dem niedergeschlagenen polnischen Aufstand von 1863 behandelten die zaristischen Behörden jedoch die annektierten polnischen Gebiete nicht mehr weiter als »Königreich«, sondern als bloße Provinzen, die sie administrativ aufspalteten. Die Bezeichnung „Polen“ wurde verboten und nur noch vom „Weichselland“ gesprochen. Zugleich wurde eine Politik der „Russifizierung“ verfolgt. – Im Ausland galt »Kongreßpolen« weiterhin als Synonym für den russisch besetzten Teil Polens. Rosa Luxemburg und Leo Jogiches hingegen zogen den Begriff vom 1867 aufgelösten »Königreich Polen« vor, der einerseits die Gleichberechtigung Polens gegenüber Rußland betonte, andererseits die Unabhängigkeit von den Signatarmächten des Wiener Kongresses – „Kongreßpolen“ – signalisierte. Dementsprechend nannten sie ihre 1893 gegründete Partei „Sozialdemokratie des Königreiches Polen“ (SDKP). 1900 wurde daraus die „Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens“ (SDKPiL).

[2] Nach den siegreichen Befreiungskriegen gegen Napoleon hatten sich vom 18. September 1814 bis 9. Juni 1815 die europäischen Staatsoberhäupter in Wien versammelt, um eine territoriale Neugestaltung Europas vorzunehmen. U. a. wurde das hier geschaffene Königreich Polen mit Rußland in Personalunion verbunden.