Die kapitalistische Entwicklung und die Arbeitervereinigungen
Leipzig, 7. November
Ein Buch, das jederzeit willkommen wäre, erscheint gerade jetzt im höchsten Maße zeitgemäß, als eine dringende Warnung vor der Zuchthausvorlage[1] ebenso an die Arbeiterschaft wie an die Machthaber; wir meinen „Die Hamburger Gewerkschaften und deren Kämpfe von 1865 bis 1890“ von Heinrich Bürger.[2] Das schlichte Buch mit seiner. Überfülle von Tatsachen, das unter peinlicher Vermeidung jeder verallgemeinernden Beleuchtung in trockener, zum Teil sogar schwerfälliger Weise zusammengestellt ist, scheint auf den ersten Blick nichts weniger als zu einer agitatorischen Wirkung geeignet. Allein, wer sich Mühe nimmt, es aufmerksam von Anfang bis zu Ende durchzulesen, für wen Tatsachen und Zahlen eine Sprache des Lebens sprechen, der wird das einfach und ruhig geschriebene Buch kaum mit ruhigem Gemüt aus der Hand legen: Ein erschütternder Schrei des Elends, der Ausbeutung und der Knechtschaft, ein durchdringender Ruf an die Arbeiterklasse zur Verteidigung ihrer ersten Waffe im Kampfe um das Menschenrecht – das ist diese Geschichte der Hamburger Gewerkschaftsbewegung.
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Die sog. Verelendungstheorie ist in der letzten Zeit von verschiedenen Seiten heftig angegriffen worden. Bekannt sind die Theorien bürgerlicher Ökonomen, wie z. B. des Prof. J. Wolf, wonach die kapitalistische Entwicklung, insbesondere die steigende Produktivität der Arbeit, die Ten-
[1] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.
[2] Hamburg 1899, Preis 3 M. [Fußnote im Original]