Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 593

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denz habe, von selbst die Lage der Arbeiterklasse nach und nach zu heben und so schließlich selbst die Wunden zu heilen, die sie der Gesellschaft in den Anfängen der Kapitalsherrschaft geschlagen. Aber auch in den Kreisen der Arbeiterschaft gibt sich vielfach die Meinung oder, richtiger, ein unklares Gefühl kund, daß mit der Entwicklung der Großindustrie die Lage der Arbeitenden sich schließlich auch von selbst allmählich hebe, daß wir es jetzt jedenfalls viel besser hätten als ehedem.

Wer die Tatsachen aus den letzten 25-30 Jahren der Geschichte des deutschen Kapitalismus ins Auge faßt, muß diese Meinung als grundfalsch verwerfen. Eine ganze Reihe verschiedenartigster Momente in der kapitalistischen Entwicklung wirkt dahin zusammen, die Lage der Arbeiterklasse immer tiefer und tiefer herabzudrücken.

Vor allem bildet die Klage über eine allgemeine Steigerung der Lebensmittel- und der Wohnungspreise in den letzten Jahrzehnten den Kehrreim in den Beschwerden, Aufrufen, Versammlungen der Arbeiter aller Branchen. Daß es sich hier nicht etwa um eigentümlich hamburgische Verhältnisse handelt, beweist der Umstand, daß gerade nach der Einführung der Reichswährung 1875 und nach dem Zollanschluß Hamburgs 1888 an das Reich, also nachdem die Hamburger Bevölkerung die Segnungen der reichsdeutschen Wirtschaftspolitik zu genießen begann, über eine plötzliche Steigerung der Preise geklagt wird. „Der Zollanschluß“, heißt es in der Rede des Vertreters von Hamburg auf dem ersten Kongreß der Werftarbeiter Deutschlands 1890, „hat auf die Arbeiterbevölkerung Hamburgs und Umgegend schwer eingewirkt. Die Lebensmittelpreise sind dadurch um 25 bis 50 und teilweise um 100 Prozent und mehr gestiegen. Durch diese künstliche Verteuerung der notwendigen Lebensprodukte hat sich eine Mehrausgabe im Haushalt bemerkbar gemacht um den gleichen Prozentsatz, also um ca. 30 Prozent. Zu dieser Mehrausgabe stellte sich noch eine andere Mehrausgabe ein, und zwar diejenige der Wohnungsmieten.“ „Wohnungen, welche vor dem Zollanschluß 180 bis 260 M gekostet haben, kosten jetzt 320 bis 450 M.“[1]

Also ganz abgesehen von dem steigenden Kulturniveau der Arbeitermasse, sind ihre Bedürfnisse, in Geld ausgedrückt, einfach durch die eingetretene allgemeine Teuerung gestiegen. Wie stellt sich demgegenüber die Bewegung der Löhne in der gleichen Zeitperiode dar? Hier haben sehr viele und verschiedenartige Faktoren auf die wirtschaftliche Lage der Arbeiter entscheidend eingewirkt.

In erster Reihe ist es bekanntlich die Akkordarbeit, die erst Ende der

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[1] Bürger: Die Hamburger Gewerkschaften …, S. 349ff. [Fußnote im Original]