Die Krise in Frankreich
[1]Dresden, 28. Oktober
Der Fall des Kabinetts Brisson und namentlich die Tagesordnung der Kammer, über die er stolperte[2], haben kraß und unzweideutig gezeigt, um was sich das öffentliche Leben des gegenwärtigen Frankreichs dreht: Es ist dies der Kampf der bürgerlichen Gewalt, d. h. der Republik, mit der Militärgewalt. Diese Erscheinung, der Kampf zwischen einer bürgerlichen Republik und ihrer eigenen Armee, die enorme Rolle, welche die Militärgewalt in der letzten Zeit in Frankreich spielt, müssen eigentlich auf den ersten Blick überraschen. Falsch wäre es, die jetzige Kampagne der obersten Spitzen des Heeres gegen die Republik direkt als eine monarchistische Verschwörung zu betrachten. Der Monarchismus sucht selbstverständlich die Krise für sich auszunutzen, er kann auch sehr leicht bei einer ersten günstigen Wendung der Dinge auf dem Platze erscheinen und unter Umständen auch den Sieg davontragen. Nicht der Monarchismus spielt jedoch die Hauptrolle bei der gegenwärtigen Krise, es ist die Armee, die Militärgewalt selbst, die den verzweifelten Kampf mit der Republik führt. Es handelt sich um das eigene Dasein, um die eigenen Interessen der obersten Militärgewalt, der Monarchismus erscheint nur als ihr natürlicher Alliierter im Kampfe gegen die republikanische Zivilgewalt. Die Armee spielt jetzt eine selbständige Rolle in Frankreich, und dies hat eine weitgehende geschichtliche, wir möchten sagen, symptomatische Bedeutung.
[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Er wurde in die von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs aufgenommen.
[2] Die im Juni 1898 gebildete Regierung unter Eugène Henri Brisson war gezwungen, am 25. Oktober 1893 zurückzutreten, nachdem ein Vertrauensvotum für Brisson abgelehnt worden war. Brisson hatte den Vorwurf der Monarchisten und Militaristen, die Armee im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre nicht genügend vor Angriffen geschützt zu haben, zurückgewiesen.